Von T. Coraghessan Boyle

Deutsch von Ulrich Tepelmann

 

Vor einiger Zeit war ich recht lange ein junger Autor, und dann, fast genauso lange, ein jüngerer Autor (jünger als wer, fragte ich mich damals – Robert Frost?). Jetzt bin ich nur noch ein Autor. Bestimmt kein alter Schriftsteller, keine graue Eminenz, kein Mitglied der Akademie mit vergilbtem Haar, das mir aus meinen Ohren und Nasenlöchern wächst, aber, so denke ich gerne, ein weiser und reifer Autor, der noch einige schöne Jahre vor sich hat. Trotzdem schockierte es mich, als vor ein paar Monaten ein alter Freund auf seinem Rückweg von Mexiko vorbeikam und mir etwas über das Alter, das wir erreicht hatten oder ziemlich schnell erreichen würden, verriet. Wir saßen am Küchentisch und er hatte gerade einige Fotos vor uns ausgebreitet und erzählte zu jedem die Geschichte: Ich sah den Zócalo, die Strände von Puerto Escondido, weiß wie Seifenpulver, die Katakomben unterhalb von uralten Kirchen. Es entstand eine Pause, und dann sagte er: »Weißt du, ich überlege mir, in ein paar Jahren in den Ruhestand zu gehen.« Ich war verblüfft. Hier saß ein gesunder neunundvierzigjähriger Mann, einer, der sich gern modisch kleidete und gutes Geld in seinem eigenen Unternehmen verdiente.
     »Ruhestand?«, japste ich und stellte mir Gespenster in Pantoffeln vor, die um elf Uhr vormittags vor dem Fernseher hockten und Zitronenwackelpeter mit Bourbon schlabberten. Alles, was mir einfiel, war, aus den Hochglanzfotos vor mir das mit den Katakomben herauszufischen, eingefallene braune Haut und Zähne ohne Lippen, Klauen, die einmal Finger waren, auf Steinplatten liegende Menschen wie gefällte Bäume. Ich hielt das Foto hoch. »Dies ist mein Ruhestand«, sagte ich zu ihm.
     James Baldwin sagte einmal, dass wir schreiben, um Ordnung und Struktur in eine chaotische Welt zu bringen, und das stimmt sicherlich zum Teil, vielleicht sogar zum größten Teil, aber es ist trotzdem mehr als das. Schreiben ist eine Angewohnheit, eine Sucht, ein Verlangen, das genau so stark und mächtig ist wie eine Flasche an deine Lippen zu führen oder eine Nadel in deine Vene. Man könnte es den Drang nennen, aus nichts etwas zu schaffen, oder auch obsessiv-kompulsatorische Persönlichtskeitsstörung, oder auch Logorrhoe oder Wörterdurchfall. Waren Sie neulich mal in einem Buchladen? Haben Sie gesehen, was diese Schriftsteller erschaffen, was sie so an Papier absondern, so ähnlich wie die sorgfältig beschrifteten Gläser mit Scheiße, Pisse und Fußnägeln, die einer von Vonneguts Figuren seiner Frau vermachte, der ultimative Ausdruck seines innersten Ich? Ruhestand? Das alles aufgeben? Klar, wir begeben uns alle zur letzten Ruhe, wenn sie unser Blut aus dem Körper saugen und die Flüssigkeit zum Einbalsamieren hineinpumpen.
     Ganz anders als die meisten meiner Mitstudenten in der Schreibwerkstatt in Iowa in den Siebzigern, und auch anders als der größte Teil meiner eigenen Studenten heute, habe ich meine Sucht nicht im Mutterleib entwickelt und auch nicht mit der Muttermilch aufgesogen. Ich habe nicht die Berührung eines Engels verspürt, ich trug keine Brille mit Gläsern wie Flaschenböden und keine Zahnspange und kauerte mich auch nicht in dunkle Ecken mit meinen einzigen Freunden, den Büchern, noch habe ich mich wie ein Maulwurf durch die Büchersammlung meines Vaters gewühlt (um das klarzustellen: mein Vater hatte keine Büchersammlung und hat in seinem ganzen Leben kein einziges Buch gelesen, abgesehen davon, was man ihm im Sankt Josephs Heim hineingezwungen hat, dem katholischen Waisenhaus, in dem er bis zur achten Klasse aufgezogen worden ist).
     Nein, ich war ein Junge wie alle anderen Jungen. Ich spielte Baseball; streifte durch die spärlichen Reste der Wälder in der Umgebung von Westchester, tötete ein paar Dinge. Ich behauptete mich in der Schule, obwohl es eine Art Strafdienst war. Ich war ein guter Junge, ich wollte es allen recht machen – so wie fast alle Kinder von Alkoholikern – und trotzdem, mit fünfzehn oder sechzehn, verwandelte ich mich in einen Schlaumeier. Ein Arschloch. Einen Zyniker. Zum Teil waren Bücher Schuld, aber nicht ganz, noch nicht. Die Leute, mit denen ich zu tun hatte, Jungs, meine ich, waren die Kinder von wohlerzogenen Eltern, von Mittelklasse-Eltern, sogar wohlhabenden Eltern, und sie waren schlau, klug und unzufrieden. Später kamen Drogen dazu, aber zunächst war es nur dieses wahnsinnige Autofahren, diese verzweifelte Suche nach Sex, die üblichen Anfälle von Vandalismus, Saufen – und, irgendwie, merkwürdigerweise, Bücher. Wir waren Proto-Hippies, aber das wussten wir nicht. Wir wussten nur, dass wir irgendwas zwischen Gangstern und guten Schülern darstellten, und dass wir Aldous Huxley, George Orwell, J. D. Salinger und Jack Kerouac bewunderten. Schreiben? Nie davon gehört.
     Mit siebzehn fand ich mich in Potsdam, im Staat New York, wieder, auf der SUNY Potsdam, früher eine normale Hochschule, jetzt immer noch stark dozentenorientiert, aber sich entwickelnd in Richtung auf die freien Künste. Und Musik. Ich ging dorthin, weil ich Saxophon spielte und Musiker werden wollte und weil meine akademische Laufbahn zu dem Zeitpunkt sich von mittelmäßig zu hoffnungslos mittelmäßig entwickelte und kein anderes Institut mich aufnehmen wollte. Da war ich nun, am tiefgefrorenen Arsch der Welt, mit meinem Saxophon und meinen Notenblättern und wenig Talent und ohne Disziplin. Ich fiel durch beim Vorspielen und nahm Geschichte als Hauptfach.
     Warum ausgerechnet Geschichte? Ich wusste das damals noch nicht, oder konnte es nicht genau benennen, aber es hatte mit Schreiben zu tun. Es war mir noch gar nicht aufgefallen, aber ich konnte schreiben, und in Geschichte – anders als, sagen wir, in Biologie oder Mathe, muss man Aufsätze schreiben. Dort, in der Abteilung für Geschichte, habe ich meinen ersten Mentor gefunden – Dr. Vincent Knapp, der sich auch hochgearbeitet hatte, Schritt für Schritt, aus den Tiefen der Arbeiterklasse. Er sah etwas in mir – in meiner Art zu schreiben und meiner Intelligenz – und er versuchte es zu fördern und mich zu ermutigen. Er war der zweite von meinen Vätern, und ich verletzte ihn so wie Allan Sillitoes Langstreckenläufer seinen Vater/Mentor. Ich ging nicht in sein Seminar. Ich trieb mich mit den Verlierern herum.
     Aber ich las. Ich lernte Flannery O‘ Connor in meinem zweiten Studienjahr kennen, und ich meinte ihn schon lange gekannt zu haben, und es war wie eine Explosion, und außerhalb der Seminare, in den Kneipen und in Begleitung eines kleinen Kaders von Leuten wie ich, fing ich an, Updike und Bellow und Camus zu lesen, und dann Barth, Beckett, Genet und Gide, genauso wie Ibsen, O‘ Neill, Sartre und Waugh. Die Bücherei war neu, und sie roch nach dem Formaldehyd in den Teppichen, und die Bücher waren neu, jedenfalls die, die ich las, und sie rochen so wie Bücher auch heute noch riechen, nach Klebstoff und Druckerschwärze und Papiermühlen, ein Geruch, den ich mit einem Gefühl der Freude verbinden lernte – und mit Wissen. Schließlich konnte ich, als ein aufstrebender oder sogar schon etablierter Schlaumeier, vielleicht noch schlauer, noch zynischer, noch überheblicher werden, wenn ich nur genug Wissen hätte.
     Es gab natürlich den Rock’n‘ Roll, der meine früheren Jazz-Ambitionen auslöschte und mich in eine Art elektrifizierter Ekstase trieb (was später zum Schlagzeug führte, zu noch mehr Saxophon und schließlich zu einer Art von unmoduliertem Ins-Mikrophon-Schreien, während die anderen dazu koordinierten Lärm produzierten), und dann fing ich an Literatur-Seminare zu belegen, und ich entdeckte meinen nächsten Mentor, Kelsey B. Harder. Kelsey war Vorsitzender der Abteilung für Englisch, und er erkannte in mir dasselbe Talent fürs Schreiben, das auch Dr. Knapp im Fach Geschichte schon ausgemacht hatte. Auch ihn habe ich verletzt, mit den Waffen der Gleichgültigkeit und Ausgrenzung, aber ich schrieb ein paar Aufsätze für ihn, und ich merkte langsam, dass es immerhin eine Sache gab, die ich konnte und auch gut konnte. In meinem vorletzten Jahr auf dem College belegte ich mein erstes Seminar in kreativem Schreiben, unter meinem Tutor Krishna Vaid.
     Krishna ist ein hinduistischer Romanautor, der in Harvard studiert hatte, und sehr von James Joyce angetan war, und er hatte eine kultivierte, kontinentale Aura. Das Seminar verwirrte mich. Es waren elf Studenten, und alle waren Poeten, und alle schrieben Gedichte, die für mich mindestens unverständlich waren. (Die Dichtung und ich hatten auf der High School einen desaströsen Zusammenstoß, als ein aufgeblasener Pedant von Lehrer die großartigen Gedichte der englischen und amerikanischen Literatur mit einer dermaßen von Pietät durchdrungenen Stimme vorlas, dass ich sein Haar anzünden, die toten Dichter exhumieren und sie auf einen langsamen Kahn nach Patagonien setzen wollte.)
     Damals waren Workshops noch in der Entwicklung, und Krishna leitete sein Seminar recht elementar. Er bat einige Studenten, bis zum nächsten Mal etwas zu schreiben, beim nächsten Mal lasen sie die Ergebnisse dann vor, während wir anderen in tödlichem und nichts verstehendem Schweigen dasaßen und uns darauf vorbereiteten, absolut nichts dazu zu sagen. Dies ging mehrere Wochen lang so, dann wandte sich Krishna an mich und sagte: »Tom, warum schreibst du als nächster nicht mal was?«
     Na klar, warum nicht? Dies war schließlich ein Schreibseminar, und wenn ich dafür ausgesucht worden war, musste ich doch etwas von einem Schriftsteller haben. Das Problem war nur, ich hatte noch nie irgend etwas geschrieben, das heißt, außer den Seminaraufsätzen, und nun stand ich vor dem Problem, mit etwas Kreativem herauszukommen, sei es eine Kurzgeschichte, ein Gedicht oder (warte mal) ein Stück. In einem anderen Seminar hatten wir die absurdesten Dramatiker gelesen, zu einem bin ich sporadisch hingegangen und erbärmlich durchgefallen, aber wir lasen erstaunliches Material: Die kahle Sängerin, Warten auf Godot, Die Nashörner, Der Balkon. Ich fühlte mich zu diesen Stücken hingezogen, besonders weil es mir klar war, dass diese Autoren Schlauberger wie ich waren, gleichwohl sehr gebildete, sehr freche und sehr witzige Schlauberger. Ich schrieb einen Einakter. Zehn oder zwölf Seiten. Er hieß Der Fuß, und er handelte von einem Paar, das wegen des Todes ihres Kindes im Maul eines Alligators trauerte; alles, was von ihm übrig blieb, war sein linker Fuß, bekleidet mit einem Tennisschuh, er stand mitten auf dem Kaffeetisch wie ein Feiertagsgesteck.
     Ich muss hinzufügen, dass Krishna – Dr. Vaid – ein Gesicht wie Stein hatte. Er zeigte nie die leiseste Regung von Freude, Entzücken, Hass, Hoffnung, Abscheu, Langeweile oder Seelenpein, wenn meine Mitstudenten ihre erstaunlichen und verwickelten Gedichte vortrugen. Und als er mir zunickte und ich anfing mein Stück vorzulesen, wusste ich – oder glaubte zu wissen – was mich erwartete. Was folgte, war eine der größten Überraschungen meines Lebens. Krishna lächelte, dann fing er an zu grinsen und in sich hineinzulachen und schließlich lachte er lauthals. Widerwillig fingen meine Mitstudenten (die, wie ich, alle möglichen Narben trugen, sichtbare und unsichtbare, und die einmütig in ihrer gegenseitigen Verachtung und für die Arbeiten der anderen waren) hier und da mit einem unterdrückten Lachen an. Als ich fertig war, durchdrungen von dem peinlichen Gefühl, zur Erheiterung beigetragen zu haben, so als wenn man den Ball über das Netz geschlagen hat, direkt ins Gesicht des gegnerischen Spielers, begann Krishna zu applaudieren, und meine Mitstudenten auch, obwohl es sie umbrachte. Das war’s. Das war alles, was nötig war. Ich war am Haken, ich war gefangen.
     Machen Sie sich klar, welche Dinge eine Rolle in dieser essentiellen Szene, die ich gerade geschildert habe, spielten – sichtbarer Triumph und öffentliche Schmeichelei, das Übertrumpfen der Mitstreiter, die bescheidene Entgegennahme des Lorbeerkranzes und das Versprechen weiterer schwindelerregender Triumphe. Es war heftig, wirklich heftig, und normalerweise würde ich jetzt sagen, dass ich an mir arbeitete, dass ich emsig mein Talent weiterentwickelte, dass ich wie die sagenhafte Harpyie hoch zum Parnassos flog, aber das wäre nicht wahrheitsgetreu. Ich war am Haken, ich war süchtig geworden, das stimmte, aber die Droge, die ich brauchte, verlangte Hingabe, verlangte Arbeit, und bald fand ich andere Drogen, die nichts verlangten außer einem geöffneten Mund oder eine zitternde blaue Ader, um sie zu empfangen. Oh, ein paar Kurzgeschichten habe ich geschrieben, so wie ich die Wäsche in die Wäscherei tragen oder den Rasen für meinen Vater mähen würde (der in seinem Stuhl saß und seinen Drink wiegte, so als würde der gleich explodieren), aber ich fühlte keinen Drang, keinen Sinn und Zweck.
     Ich war einundzwanzig und ich war gedankenlos und vergiftet durch Rauschgift, wurde mitgerissen im Hippie-Strom wie Amphibienlaich. Ich wusste nichts. Mir war alles egal. Ich stieß auf Leute – ihre Namen sind auf meinen Lippen wie der Geschmack von Zucker, aber ich nenne sie nicht – und diese Leute zeigten mir, wie man Heroin kocht und es in die Adern schießt, ein schmächtiger Mann wie ich, ohne Fett am Körper, das die angeschwollenen blauen Leitungsbahnen zu meinem Herzen verbergen könnte.
     Das Ganze dauerte zwei Jahre, meist am Wochenende, und dann starb ein Freund an einer Überdosis, und das erschreckte mich so, dass ich mich wieder an die heilige süße Literatur erinnerte. Ich war kein schwachsinniger Junkie, ich war ein Schriftsteller, obwohl ich gerade nichts schrieb, aber ich war nicht süchtig nach der Szene und den Leuten und danach, was wir für drei oder fünf Dollar pro Tüte auf der South Street in Peekskill kauften, wo ganze Straßenzüge abgebrannt und mit Brettern vernagelt waren als Folge der Martin Luther King-Unruhen. Ich brauchte noch mal zwei Jahre – und der Begriff Quaalude spricht hier zu mir – um da rauszukommen, aber ich kam raus.
     Ich habe eine Geschichte über diese Zeit geschrieben – The OD and Hepatitis Railroad or Bust – und Robley Wilson Jr. veröffentlichte sie in der North American Review. Damit bewarb ich mich in Iowa, und Iowa nahm mich. Ich war noch nie westlich von New Jersey gewesen, und ich konnte Iowa nicht von Ohio unterscheiden, oder von Idaho, was das betrifft. Aber es war dann alles doch nicht so kompliziert, meine Freundin und mein Hund stiegen ins Auto, wir markierten die Route auf der Karte, und los ging’s auf dem Interstate Highway 80.
     Es war Spätsommer in Iowa, Hügel und Häuser mit quadratischen Gesichtern und Blätter, so grün wie man es sich nur vorstellen kann. Es gab eine Party für neue Studenten an einem schwülen Septembertag, in einem der großen alten Häuser irgendwo in der Innenstadt, und ich erinnere mich, wie Fred Exley hereinstolzierte mit zwei strahlenden und wunderschönen Studenten im Schlepptau, einer männlich und die andere weiblich, mit einer Literflasche Wodka, aus der er große Schlucke trank, als wäre es ein großes, kaltes, helles Bier. Es sollte noch viele Jahre dauern, als Pages from a Cold Island herauskam, bevor ich verstand, wo er gewesen war und was er an dem Tag wohl gedacht haben mag, aber ich war auf jeden Fall beeindruckt: Hier stand ein Schriftsteller.
     Es war so: In dem ersten Semester konnte ich zwischen fünf Autoren auswählen, bei welchem ich studieren wollte: Vance Bourjaily, Frederick Exley, Gail Godwin, John Irving oder Jack Leggett. Ich nahm Vance, und das war richtig. Er wurde mein nächster Vater/Mentor, und er war der erste, den ich nicht enttäuschte. Weil ich mich verändert hatte. Ich war wirklich süchtig nach Schreiben, und nichts konnte mich davon abbringen, die Worte herauszulassen – oder wenigstens wollte ich mich voll und ganz dieser Prüfung stellen, zum ersten Mal im Leben.
     Etwas war mit mir passiert, etwas für mich bis heute Unerklärliches: Ich fühlte eine Kraft in mir. Ich will hier nicht mystisch werden, weil die Wissenschaft den Mystizismus in mir zerstört hat, zu meinem ewigen Bedauern, aber ich fühlte mich plötzlich, obwohl ich nichts getan hatte, um es zu verdienen, stark, überlegen, unbesiegbar. Die Leute sagten, ich wäre aggressiv – das sagen sie immer noch – aber was ist Überheblichkeit, Arroganz, wie immer man es nennen will, anderes als eine vorbeugende Maßnahme gegen deine eigenen Schwächen? Und ohne eine solche Maßnahme, welche Chance hat man dann, erfolgreich zu sein? Ich fühlte eine Kraft in mir. Ich schrieb. Ich las alles. Ich schrieb mich in das Promotionsseminar ein, zur gleichen Zeit, als ich meinen Magister machte, und hier traf ich den letzten meiner akademischen Mentoren, Frederick P.W. McDowell, der mich Professionalität lehrte und die Liebe zur britischen Literatur des 19. Jahrhunderts. (Ich habe mal eine obskure Bemerkung über einen obskuren Dichter gemacht, als wir vor dem Raum auf seine Vorlesung warteten, und er schwieg einen Moment, sah mich mit einem Blick an, der Holz entrinden könnte, und sagte: »Mr. Boyle, ich zweifle nicht daran, dass Sie zu guter Letzt die Disziplin haben werden, die Anforderungen für den Doktor-Grad zu erfüllen, und lassen Sie mich eines sagen, nicht alle haben das.«)
     Vance jedoch. Vance war ein Wunder. Er war ein Fels, ruhig und gefasst, und seine Anwesenheit auf der anderen Seite des Raumes, wenn er eine Pause machte, um sich eine Zigarette zu drehen oder eine lakonische Bemerkung zu machen, war überaus tröstlich. Sein Seminar war das erste, zu dem ich ging im Rahmen des Workshops, und es war rein männlich besetzt. Ich nehme an, da waren vielleicht fünfzehn oder sechzehn Studenten versammelt, die meisten älter als ich, und alle außer dreien (mich eingeschlossen) schrieben über ihre Erfahrungen in Vietnam.
     Meine Geschichte kam in der ersten Woche dran. Sie war nicht über Vietnam. Sie war darüber, ein Hippie in einem bestimmten Hippiemilieu zu sein, einer, der Rauschgift spritzte, und ich benutzte ein paar sich wiederholende Bilder, um den Effekt zu erzielen. Vance mochte die Geschichte. Meine Mitstudenten, etwas reservierter, mochten sie. Es war nicht unbedingt die Art von Erfahrung, die ich in Krishnas Seminar machte, aber ich war jetzt in einer viel größeren Arena, und die Erfahrung gab mir Aufschwung (genauso wie Vance’s Fürsprache, etwas später im Semester, meiner Allegorie Blutregen).
     Es war so: Die drei Autoren, bei denen ich das Glück hatte, in Iowa zu studieren – Vance, John Cheever und John Irving, einer von Vance’s ehemaligen Studenten – waren alle außergewöhnlich großzügig und unterstützen mich sehr. Und das braucht ein junger Autor, um seine Sucht zu füttern – diese Art Lob und sanfter Kritik, die zu breiterer Bestätigung führt. Man fängt an zu denken: Ja, ich bin im Grunde doch ein Schriftsteller. Nicht nur in der kleinen Welt, aus der ich komme, sondern auch in der großen Welt.
     John Cheever war wie ein Wind, der aus einer entlegenen Ecke blies. Er zog sich sehr korrekt an, mit Anzug und Fliege, und er sprach mit einem Akzent, der aus einer Zeit zu kommen schien, die keiner von uns je gekannt hatte oder sich überhaupt vorstellen konnte. Wir müssen ihm ebenso geheimnisvoll vorgekommen sein, mit unseren zerstrubbelten Haaren und Bärten und mit Kleidern, die die Wohlfahrt noch nicht einmal genommen hätte. Er schien keine große Ahnung davon zu haben, was man als Lehrer tun muss, und dies wurde noch komplizierter dadurch, dass er meistens betrunken war, und trotzdem las er unsere Geschichten sorgfältig und lobte sie, wenn sie des Lobes wert waren. Ich tönte immerzu herum von wegen »experimentellem Schreiben« und pries Leute wie Coover, Pynchon, Barthelme und John Barth, aber Cheever wollte davon nichts hören. Er konnte nichts mit The Sot Weed Factor anfangen und sah auch nicht ein, wieso er sich die Mühe machen sollte, es zu versuchen. Außerdem bestand er darauf, dass seine Arbeit auch experimentell war, aber ich verstand nicht ganz, was er meinte, bis er fünf Jahre später seine gesammelten Geschichten veröffentlichte und ich Sachen wie The Death of Justina noch einmal las, eine Geschichte, die so dunkel und beunruhigend war wie kaum etwas anderes, das ich gelesen hatte. Jede gute Fiktion ist experimentell, sagte er mir, und lassen Sie sich nicht von Moden verführen.
     Während der nächsten drei Jahre war ich am meisten mit dem Schreiben für meine Promotion beschäftigt, eine fünfzigseitige Analyse über Tennyson, Keats und Matthew Arnold und ihresgleichen, aber ich hatte zunehmend das Gefühl, ich bräuchte die Jagd nach der Meisterschaft, und dieses Gefühl konnte mir nur das Schreiben von Fiktion geben, und so schrieb ich Geschichten, wann immer ich konnte. Abstammung des Menschen, Der Champion, Wir sind Nordländer und Ein Frauenrestaurant stammen aus dieser Zeit, und diese Geschichten – verrückt, absurd, übertreibend, aber mein Eigentum, alles meins – erschienen nicht nur in den kleineren Zeitschriften, sondern auch in Esquire, The Paris Review und The Atlantic Monthly. Ich war ein Autor. Klar war ich einer – und da war der Beweis. Aber als ich in Iowa 1977 meinen Abschluss machte, wurde mir klar, dass ich noch einen Schritt vor mir hatte.
     Ray Carver hatte ein paar Jahre vorher in der Stadt gelebt, in den Tagen von Cheever (sie tranken zusammen in The Mill, und ich werde nie verstehen, warum die Gesellschaft für die Geschichte des Ortes nicht kleine Metallplatten auf die Barhocker geschraubt hat, auf denen sie gesessen haben, während der langen, schweren Stunden, in denen sie Gläser leerten und sich Zigaretten anzündeten), und nun war er zurückgekommen, um im Workshop zu unterrichten. Will you please be quiet please war in dem Jahr herausgekommen und bestätigte, was wir Studenten schon lange gewusst hatten: dass Ray der beste Autor von Kurzgeschichten seiner Zeit war. Er erstaunte und inspirierte mich. Wir sprachen darüber, Geschichten an kleine Zeitschriften zu verkaufen – verkaufen, das heißt, wenn sie erstmal aus dem Nichts erschaffen und in Form gebracht waren – aber wir sprachen nicht viel über das Handwerk des Schreibens. Tatsächlich war es so, dass ich mich nicht erinnern kann, damals mit überhaupt jemandem über das Handwerk gesprochen zu haben – es war wie selbstverständlich, wie ein Weg, den man einschlug, weil man ein Schriftsteller war, jemand, der in der Lage war, alle Geschichten, die es gab, zu assimilieren, und etwas völlig Anderes aus ihnen zu machen, aus ihnen und aus dem Unbehagen und den vergänglichen Freuden des eigenen begrenzten Lebens. Jedenfalls, ich vergötterte Ray, weil er das verkörperte, was ich werden wollte – und einmal sagte ich das zu John Irving – das heißt, ich sagte: »Ich will keine Romane, nur Geschichten schreiben, wie Ray« – und John meinte, ich würde vielleicht eines Tages meine Meinung ändern.
     Er hatte Recht. Ich änderte meine Meinung. Und wie. Ich fing an mit Wassermusik, während ich meine Prüfungen machte und saß die nächsten drei Jahre daran, alle einhundertundvier Kapitel. Ich fing damals damit an, vormittags zu schreiben, sieben Tage in der Woche, die Sucht hatte mich endlich voll erwischt und war nun im Endstadium, und ich arbeite seitdem nach diesem Fahrplan. Als ich Wassermusik anfing, hatte ich auch nicht mehr Ahnung davon, wie man einen Roman schreibt, als davon, wie man ein Stück schreibt, als Krishna Vaid mich zehn Jahre zuvor aufforderte, etwas für seinen Workshop zu schreiben. Ich lernte es jedenfalls, Minute für Minute, Tag für Tag, und ich blieb hartnäckig trotz der Bedenken sowohl meines Agenten als auch meines Verlegers, die nicht daran glauben mochten, wie die Geschichte von Mungo Park, Afrikaforscher, und die von Ned Rise, Schlingel, jemals zu einem wenigstens einigermaßen befriedigendem Ende kommen sollten. Glaubt an mich, sagte ich ihnen, und arbeitete weiter, obwohl mein Verleger mich warnte, ich sollte es in weniger als fünfhundert Seiten schaffen (Ich schaffte es, in vierhundertsechsundneunzig, aber ich mogelte, indem ich jede Seite bis zum toten weißen Rand ausnutzte.)
     Dann begannen die anderen Bücher mir zuzuwachsen, und ich fing an, Aufmerksamkeit zu erregen und Interviews zu geben und zu artikulieren, was ich in meiner Fiktion zu tun versuche – oder eher, was ich versucht hatte. Ich sehe, wie meine Bücher und Geschichten unentwirrbar verknotet sind, wie die Themen und Ideen – die Suche nach dem Vater, Rassismus, Klasse und Gesellschaft, Vorbestimmheit versus freier Wille, Kulturimperialismus, sexueller Krieg und sexueller Waffenstillstand – sich immer wiederholen.
     Ich kann dies sehen, aber nur im Rückblick. Das ist das Schöne an dieser Sucht – man muss weitermachen, kein Ruhestand, blicke voraus, obwohl du nicht sehen kannst, wo du hingehst. Zuerst hast du gar nichts, und dann, erstaunlicherweise, nachdem du dir dein Hirn und dein Herz herausgerissen hast und deine Freunde und Ex-Geliebten betrogen hast und wie ein Zombie geträumt hast wegen einer Seite, bis du weder sehen noch hören noch riechen oder schmecken kannst, dann hast du etwas. Etwas Neues. Etwas Wertvolles. Etwas, was man hochhalten und bewundern kann. Und dann? Nun, du hast Blut geleckt, nicht wahr? Und du fängst wieder von vorn an, mit gar nichts.


Aus: The Eleventh Draft, herausgegeben von Frank Conroy, HarperCollins, New York 1999. © T. Coraghessan Boyle. Verwendung des Textes bei www.tcboyle.de seit 2012 mit freundlicher Genehmigung von T. Coraghessan Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann. Foto von Rob Jordan, Garrison NY, 1973. Von links nach rechts: Davey McGahee, Garrett McCarey, T.C. Boyle, John Cutten. Verwendung des Fotos mit freundlicher Genehmigung von T. Coraghessan Boyle.