Von Norm Sender

 

tcb-hamburg-2013Das Audimax der Uni Hamburg ist zum Bersten gefüllt. Etwa 1.300 Besucher rutschen mit ihren Pobacken ungeduldig auf den Stühlen. Sie warten auf den Auftritt des amerikanischen Schriftstellers T.C. Boyle, der in die Hansestadt gekommen ist, um seinen neuen Roman San Miguel vorzustellen.
     Auch ich bin im Publikum, sitze zusammen mit einem Freund in einer der hintersten Reihen. Zehn Jahre lang habe ich die deutschsprachige Website von T.C. Boyle betreut. Ich kenne alle seine Bücher, habe viele seiner Lesungen besucht und ihn auch etliche Male persönlich getroffen. Ich beneide ihn, um seine Erzählkunst, sein Arbeitspensum, seine Fans und um das Leben, das er führt. Er steht im Rampenlicht, lässt sich feiern, aber immer nur für ein paar Wochen im Jahr. Zum Schreiben zieht er sich zurück in seine Frank-Lloyd-Wright-Villa in den Bergen von Montecito, 140 Kilometer nördlich von Los Angeles. Es ist ein Ort mit etwa 10.000 Einwohnern. »Ein eigenes kleines Dorf«, behauptet Boyle. Aber manchmal ist es ihm auch hier noch zu laut. Dann mietet er sich ein Haus im Sequoia Nationalpark, wo er ganz allein sein kann, wo es keine Menschen gibt und auch kein Licht, sondern nur noch ihn und seine Schreibmaschine. »Hier werde ich ruhig, dann ist es okay«, sagt Boyle.
     Im Hamburger Audimax ist es gerade alles andere als ruhig. Der Schriftsteller betritt unter tosendem Applaus die Bühne, zusammen mit der NDR-Moderatorin Shelly Kupferberg, und es ist wie immer bei seinen öffentlichen Auftritten: Es wird nicht nur vorgelesen, sondern auch viel gescherzt und gelacht – trotz der ernsten Themen, die Boyle in seinen Büchern behandelt, und als er sich nach 90 Minuten von seinen Zuhörern verabschiedet, rennen wie gewohnt mehrere hundert Fans zum Bühnenrand, um sich ihre Bücher signieren zu lassen.
     Ich lasse mich derweil von der Presseleiterin des Verlages in die Künstlergarderobe entführen, wo Frau Boyle sitzt. Sie ist eine ganz wunderbare Frau. Sehr herzlich, sehr interessiert und sehr unamerikanisch. Sie fragt viel, ist eine aufmerksame Zuhörerin. Ich helfe ihr, die Flasche Rotwein auszutrinken, die eigentlich für ihren Mann bestimmt war, weil er sie nach seinem Auftritt als Geschenk und vielleicht zusätzlichen Teil seiner Gage erhalten hat.
     Als ich mich von ihr und später auch ihrem Mann verabschiede, habe ich eine Einladung in der Tasche. Eine Einladung nach Montecito, in das kleine Dorf von T.C. Boyle. Ich fühle mich geehrt und hoffe, dieser Einladung eines Tages nachkommen zu können. Denn ich bin sicher, es wäre eine gute Gelegenheit, mein Wissen über das Landleben zu vertiefen, und überdies eine gute Anleitung, das beneidenswerte Leben eines weltweit gefeierten Schriftstellers im Kleinen nachzubauen.


Aus dem Buch: Stadt. Land. Flucht. Kuhmist oder Kohlenmonoxid? Auf der Suche nach dem wahren Leben. Von Holger Reichard & Karsten Weyershausen, Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin, Mai 2015. Foto: Holger Reichard