Von T. Coraghessan Boyle

Deutsch von Ulrich Tepelmann

 

Ich muss gestehen, dass Weihnachten für mich ein ziemliches Rätsel darstellt, da ich kein Christ bin und ich im Gegensatz zu den Japanern, die den Feiertag wegen seiner starken Symbolik und seiner überbordenden kommeziellen Bedeutung ins Herz geschlossen haben, verabscheue ich jede Art von Shopping und will lieber weniger, nicht immer mehr. Gehöre ich damit zum Lager des Geizhalses Scrooge? Vielleicht ist das so. Aber ich ertappe mich jedes Jahr dabei, wie ich bei Eine Weihnachtsgeschichte weine und von Weihnachten so ergriffen bin wie als kleiner Junge in der Vorstadt im Staat New York, als der Weihnachtsmann, Jesus und mein Vater ihren festen Platz hatten und über mein Leben wachten, um sowohl Freude als auch Sinn zu spenden.
     Die Familie ist versammelt. Der Baum ist geschmückt, die Geschenke eingepackt. Dieses Jahr werden wir eines der seltenen Weihnachtsfeste an der Küste feiern. Wieso? Warum sind wir nicht oben in den schneebedeckten Bergen und genießen die Stille? Weil wir jetzt angeheiratete Verwandtschaft haben, und die fliegen westwärts, um der bitterkalten Jahreszeit in Ohio zu entfliehen, und wir bleiben zu Hause und werden sie freudig und guten Mutes empfangen. Die Temperatur soll heute auf über achtzig Grad steigen (für Euch Europäer, die ihr sinnvollerweise in Celsius rechnet: Das bedeutet warm, zehn Grad Celsius mehr als normal). Das gefällt mir nicht. Aber ich bin aus den Bergen vor einer Woche zurückgekehrt und werde irgendwann nach Weihnachten wieder hinfahren, und wenn der Wettergott mitspielt, werde ich noch die eine oder andere Gelegenheit haben, mich inmitten der Kathedrale des Waldes aufzuhalten, mir den frisch gefallenen Schnee von Kopf und Schultern zu fegen und an absolut nichts zu denken. Glückselig.
     Weihnachtliche Lieder? Ich liebe sie alle, wie meine Weihnachtsgeschichte Dreiviertel des Wegs zur Hölle beweist. Ich höre Bach, Händel, Mozart, vor allem die Messen. Und die Pop-Weihnachtslieder, die im Supermarkt aus den Lautsprechern dröhnen und die für mich (und da bin ich ganz bei den Japanern) ganz einfach Nostalgie verkörpern. Meine Mutter. Mein Vater. Meine Schwester. Mein kleines Haus in Emery Hill Gardens. Wo sind sie alle geblieben? Und obwohl ich jetzt ein großes Haus und eine eigene Familie habe und ich hinter den Fenstern keine Schneeränder und kahle Bäume erblicke, sondern Palmen und Bougainvillea. Was ist daran auszusetzen? Nichts, rein gar nichts. Vor allem, wenn die immer scheinende Sonne im Westen untergeht und es ein wenig kühler wird und wir mit einem Glas Glühwein am Feuer sitzen und aus dem in Arbeit befindlichen Roman Die Terranauten vorlesen können und dann vielleicht noch ein bisschen aus Eine Weihnachtsgeschichte. Wer weiß? Der Tag ist noch jung.
     Weihnachten. Wieder Weihnachten.
     Was ich sagen will, ist, dass die Welt ein dunkler Ort ist und das Leben ein Mysterium, unsere Gedanken uns gehören, unsere Gefühle hormonell bedingt sind, dass Kunst eine Methode ist, die Dämonen zu bekämpfen, und die Liebe das Beste ist, das wir je erfunden haben, und deshalb sollten wir uns daran erfreuen, wann und wie auch immer wir können. Wie die Beatles vor vielen Jahren so einprägsam klarstellten: »Und am Ende ist die Liebe, die man empfängt, gleich der Liebe, die man gibt.« Ich wünsche allen viel Freude. Reichhaltigen Segen. Lebt und atmet und seht und empfindet und hört und fühlt – und schmeckt auch, aber übertreibt es nicht. Das Fest ist nah. Das Leben gebiert weiteres Leben, auf diesem Planeten und höchstwahrscheinlich auf Millionen, wenn nicht Milliarden anderer. Und dafür sollte man dankbar sein. Glaube ich.


Im Original erschien der Text am 24. Dezember 2014 auf www.tcboyle.com. Veröffentlichung des Textes auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann.