Von T. Coraghessan Boyle
Deutsch von Ulrich Tepelmann
Die meisten Leute haben anscheinend richtig Spaß daran, im Verkehr Stoßstange an Stoßstange im Stau zu stehen, bei zweindvierzig Grad Hitze, während sie die Diesel-Abgase von LKWs einatmen und wie in einer Art Wachtraum abwechselnd das Gas- und das Bremspedal bearbeiten. Ich nicht. Vielmehr empfinde ich jede Art von Verkehrsstau als einen persönlichen Affront (wieso können sich all diese Menschen nicht irgendwo anders an einem anderen Tag zusammenrotten?), und ich nehme gern jeden Umweg von hundert Kilometern in Kauf, nur um einen Stau zu vermeiden. So war es auch an einem vor Hitze flirrenden Nachmittag in der vergangenen Woche, als ich die viereinhalbstündige Rückfahrt aus den südlichen Sierras antrat und hinter einer Wand aus gegossenem Stahl, bestehend aus Fahrzeugen, zum Stehen kam. Sie erstreckte sich vom nördlichen Ende des Grapevine-Passes auf der Interstate 5 bis zum Horizont. Ich wusste nicht, was da weit oben auf dem Bergpass los war, aber ein Warnhinweis blinkte auf: Zwei Spuren gesperrt. Zweifellos ein Unfall. Unbeabsichtigt verursacht von unaufmerksamen Menschen, Menschen, die keine Ahnung davon hatten, dass der Rückspiegel erfunden und serienmäßig in ihre Fahrzeuge eingebaut worden war, die mit hundertzwanzig unterwegs waren und sich mit ihren Fingernägeln beschäftigten, sich mit blauer Tinte selbst Tattoos auf ihre Waden malten, SMS und Sexnachrichten verschickten und auf Burgern mit doppelt Käse und doppelt Schinken herumkauten, wobei die Spezial-Soße zwischen ihre Schenkel tropfte und sie ihre neuen weißen Jeans mit zusammengeknüllten Servietten bearbeiten mussten. Ich hatte natürlich keine Zeit, mir auszumalen, was diesen Leuten widerfahren sein mochte, weil ich es verdammt nochmal eilig hatte. Unser Familienmotto lautet nämlich, hier auf Englisch wiedergegeben zum Nutzen derjenigen unter Euch, die kein Latein können: We are always in a hurry [Wir haben es immer eilig.] Merken die Tausenden von Menschen, in ihren Tausenden feststeckenden Fahrzeugen, dies nicht? Diese Rücksichtslosigkeit von ihnen, mehr als alles andere, mehr als ihre kriminelle Unaufmerksamkeit, war es, die mich aufbrachte.
Mit heldenhaftem Bemühen schaffte ich es, mich durch die verstopften Fahrspuren bis zur allerletzten Ausfahrt vor dem »Punkt ohne Wiederkehr« durchzukämpfen und fand mich bald auf einer Straße wieder, die unter der Interstate hindurch zu den freien Fahrspuren in Richtung Norden führte. Alles klar. Mit Hilfe von Frau B. und ihrem iPhone konnte ich eine Route finden, die entlang der Berge nach Westen verlief, die wiederum zur Route 33 führte, einer zweispurigen Asphaltstraße, die sich ihren eigenen verschlungenen Weg nach Süden durch den Los Padres National Forest bahnte, in der Nähe der Sespe-Wilderness und damit in Richtung des mächtigen Pazifik, der irgendwo dahinter lag. Dabei hatten wir einige der spektakulärsten Ausblicke, die uns je untergekommen sind, so als wären wir in einen der Nationalparks versetzt worden – und wir waren so ziemlich die einzigen auf der Straße. Was machte es da schon, dass wir anderthalb Stunden länger brauchten, um nach Hause zu kommen? Plötzlich hatte ich es nicht mehr eilig. Wie heißt es so schön – mach langsam und schnupper an den totgefahrenen Tieren?
In der Sespe-Wilderness wurden übrigens die ersten in Gefangenschaft aufgezogenen Kondore in die Freiheit entlassen, nachdem zuvor alle noch vorhandenen freien Exemplare eingefangen und als Übergangslösung zur Erhaltung der Art in Gefangenschaft gehalten worden waren. Ich sagte meiner Frau, sie solle nach Gymnogyps californianus Ausschau halten, diesem hochfliegenden altertümlichen Geier mit einer Flügelspannweite von knapp drei Metern, der wie ein Piper-Flugzeug aussähe, wenn er nicht einen Kopf (gelb-orange) hätte und sich flügelschlagend fortbewegen würde. Wir beobachteten den Himmel, aber kein Kondor ließ sich blicken. Nächste Tankstelle achtzig Kilometer. Haarnadelkurven. Felsformationen. Kein einziger liegengebliebener LKW in Sicht. Was machte es da schon. wenn wir spät nach Hause kamen? Alles, was wir nach unserer Ankunft zu tun hatten, war, den Schutt nach einer Woche Abwesenheit zu beseitigen, die Legionen von Ratten zu bekämpfen, die sich während unserer Abwesenheit vergnügt hatten, also klar Schiff zu machen, um unser normales Leben auf Meereshöhe wieder aufnehmen zu können. Hat jemand Lust, essen zu gehen?
Doch genug von meinen aufregenden Abenteuern. Bei den E-Mails, die sich in meiner Abwesenheit angestaut hatten, warteten einige Neuigkeiten auf mich: Harper’s wird No Slant to the Sun veröffentlichen, das erste Kapitel von Hart auf hart, was, wie Ihr sehen werdet, als eigenständige Geschichte funktionieren kann. Sie stellt Sten Stenson, eine der drei Hauptfiguren, vor, spielt in Costa Rica und dreht sich um eine einzelne Gewalttat, die dazu dient, in die Überlegungen über amerikanische Gewalt und den Antiautoritarismus und deren Erforschung, mit der sich der Roman befasst, einzuführen. Das dem Buch vorangestellte Zitat stammt, wie ich hier bereits erwähnt habe, aus D.H. Lawrences Studies in Classic American Literature: »Die amerikanische Seele ist ihrem Wesen nach hart, einzelgängerisch, stoisch und ein Mörder. Sie ist noch nicht geschmolzen.« Also, ich weiß nicht. Und ich frage mich zum Beispiel auch, wie Rick aus Babymörder darüber gedacht hätte, ganz zu schweigen vom alten Bill Faulkner, der sie von Grund auf kannte.
Jedenfalls werde ich es Euch wissen lassen, wann die Geschichte erscheinen wird (höchstwahrscheinlich Anfang nächsten Jahres, da der Roman am 31. März herauskommen soll, ein Tag, der zweifellos glorios in die Geschichte eingehen und allein gewaltige Verkehrsstaus hervorrufen wird, wenn die Menschen panikartig die Buchläden stürmen, aus Angst, keine Erstausgabe mehr zu ergattern, während die schmerzerfüllten Schreie »Fahr den Laster hier weg, du Wichser!« und »Krieg deinen Arsch hoch!« klagend durch die Gegend schallen). Das wäre mal ein Stau, der mir gefallen könnte.
Okay. Das wär’s für heute. Aber denkt daran, den Finger am Abzug und den Fuß auf dem Gas zu halten.
Im Original erschien der Text am 31. Juli 2014 auf www.tcboyle.com. Veröffentlichung des Textes auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann.