Von T. Coraghessan Boyle
Deutsch von Ulrich Tepelmann
Als ich ein Kind war und in einem Vorort im Westchester County im Staat New York aufwuchs, da war Halloween der Höhepunkt des Jahres. Was sollte es, wenn dieser Feiertag von Zahnärzten erfunden wurde? Was machte es schon, wenn wir am nächsten Tag zur Schule mussten? Dies war der eine Abend ohne elterliche Aufsicht, ein Abend, um sich zu verkleiden und uns (sicher und nicht übermäßig) auszutoben. In einem Jahr – ich muss so zehn oder elf gewesen sein, in einem Alter, in dem ich begierig begonnen hatte, den Unterschied zwischen den Geschlechtern schätzen zu lernen – hab ich mich mit der Hilfe meiner Mutter als Mädchen/Frau verkleidet. Lippenstift, Perücke, Rock, Büstenhalter, Bluse, hohe Absätze: Ich war verwandelt, und war das nicht besser, als ein Landstreicher oder Dracula zu sein? Ich hab den Abend als Mann begonnen, jetzt war ich eine Frau – keiner hätte mich jemals wiedererkennen können. Es war aufregend. Dann ging ich hinüber zum ersten Haus, direkt gegenüber, klingelte an der Tür und rief: »Süßes oder Saures!« Mr. O’Kane öffnete die Tür. Er reichte mir einen Schokoriegel und sagte: »Einen schönen Abend noch, Tommy.« Im nächsten Jahr ging ich wieder als Landstreicher. Und ich machte weiter mit »Süßes oder Saures« bis in meine frühen Teenagerjahre, wenigstens so lange, bis ich größer war als die Erwachsenen, die die Tür öffneten.
Heute ist das anders. Es gibt nur wenige sichere Bereiche, in denen sich Kinder frei im Dunkeln bewegen können und das Süßes-oder-Saures-Spielen wird von besorgten Eltern reglementiert und beaufsichtigt. In Ordnung. Ich verstehe das. Wir leben in einer Zeit der Schießereien an Schulen, von Argwohn und Hass, von Trump. Heute abend werden wir hinunter ins untere Dorf bummeln, wo alle Geschäfte Fässer mit Süßigkeiten rausgestellt haben, so dass man sich bedienen kann, und Hunderte kostümierter Kinder – die Eltern im Schlepptau – tollen auf der Straße herum. Und heute Morgen, bevor ich mich niederließ, um mit Euch allen zu kommunizieren, hatte ich das ungetrübte Vergnügen, am Halloween-Umzug in der Grundschule meines Enkels (er ist in der Vorschule) teilzunehmen, und es war die reine Freude und wunderschön und erinnerte mich stark an meine eigene unbeschwerte (oder kaum beschwerte) Kindheit in der Vorstadt in New York.
Inzwischen habe ich die erste des neuen Schwungs an Kurzgeschichten fertiggestellt, die, wenn alles gut geht, zusammen mit den sechs, die ich geschrieben hatte, bevor ich mich in den gerade beendeten Roman vertieft habe (Princess, The Maneater, The End Is Only a Beginning), die nächste Kollektion bilden soll. Die neue Geschichte heißt Go With the Soft, und jetzt hoffe ich inständig, dass in den nächsten Monaten noch weitere folgen werden. Wovon handelt sie? Von Gewalt. Genauer, von der Gewalt, die Kindern bei Amokläufen in Schulen angetan wird und deren psychologischen Konsequenzen. Ein wirklich beängstigendes Thema. Ich lasse es Euch wissen, wann und wo sie erscheinen wird, sobald es feststeht.
Was ich sagen will, ist, dass die Welt nach wie vor kostbar, voller Freuden und quicklebendig ist, trotz der Machenschaften von Trump, Putin, Orbán und anderen, und Ihr sollt alle rausgehen und Euch daran erfreuen. Lasst Euch nur auf die sanfteste und vorhersehbarste Weise erschrecken.
Happy Halloween.
Im Original erschien der Text am 31. Oktober 2024 auf www.tcboyle.com. Veröffentlichung des Textes auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann.