Von T. Coraghessan Boyle

Deutsch von Ulrich Tepelmann

 

Für mich ist eine Geschichte eine Übung für meine Vorstellungskraft – oder, wie Flannery O’Connor es ausdrückt, ein Akt der Entdeckung. Ich weiß nie, was aus einer Geschichte wird bis sie sich zu entfalten beginnt; das Ganze kommt zu mir beim Schreiben als eine Art Wachtraum, und es kann mit der Erkundung eines Themas oder mit einer Erinnerung beginnen, oder mit etwas Zufälligem, als ich zum Beispiel herausgefunden hatte, dass die wilden Tiere in Feuerland auf Grund des Ozonlochs, das sich dort jedes Jahr auftut, erblinden, oder dass die Shetland-Inseln der windigste Ort der Welt sind. Die Professoren haben immer betont, man solle darüber schreiben, was man kennt; aber ich sage, man solle schreiben, was man nicht kennt, und auf diese Weise etwas herausfinden. Und das funktioniert. Oder kann funktionieren. Schließlich verführt eine Geschichte den Leser, und eine solche Verführung kann ihn oder sie so sehr in den Bann ziehen, dass alles plausibel wird. So auch bei Windsbraut, wo es um den Wind geht. Ich bin nie auf den Shetland-Inseln gewesen, obwohl ich sehr nahe dran war – auf einem Fischerboot vor Oban, wo ich fast erfroren bin – aber die Geschichte kam zu mir, als wäre ich in einem anderen Leben dort geboren und aufgewachsen. Nachdem sie im New Yorker erschienen war, meldeten sich die Redakteure von The Shetlander, der Insel-Zeitschrift, und wollten wissen, wann und wo ich bei ihnen gelebt hatte.
     Dennoch sind wir alle bis zu einem gewissen Grad Produkte der Geografie, und meine unmittelbare Umgebung – das, was ich aus dem Fenster sehe, an den Straßen, Stränden und Wanderwegen, in Bars, Restaurants und Theatern – hat unweigerlich eine Rolle bei den Themen und Schauplätzen meiner Geschichten gespielt. Beispielsweise sind alle Geschichten im zweiten Band meiner gesammelten Erzählungen nach meinem Umzug von Los Angeles nach Santa Barbara im Jahr 1993 entstanden, und die Geschichten, die nicht an einen bestimmten Ort gebunden sind – das Fresno in Die unterirdischen Gärten, wo Baldasare Forestiere sein fantastisches Labyrinth unterirdischer Räume errichtete, oder Die unglückliche Mutter von Aquiles Maldonado, was in Caracas spielt, oder Hundologie in Indien – sind ebenfalls nach Norden gezogen. Und nach Westen, wenn man die vielen Geschichten berücksichtigt, die im New York meiner jüngeren Jahre spielen und von denen die meisten im vorigen Band erschienen sind.
     Insofern nehme ich an, dass ich über das schreibe, was ich kenne, zumindest was die Erkundung der Geschichte, der Ökologie, der Gefühlslage und der sozioökonomischen Bedingungen der Umgebung angeht, in der ich mich jeweils befinde, und dazu gehören auch die vielen Geschichten, die ich im Sequoia National Monument (früher Sequoia National Forest genannt) angesiedelt habe, ein Ort, an den ich mich immer wieder flüchte, seitdem ich an die Westküste gezogen bin. Die neueste Geschichte Mein Schmerz ist größer als deiner entstand zum Beispiel direkt aus einem Vorfall, von dem ich gerüchteweise gehört hatte, und zwar in einem Mikrokosmos, den ich gerne »Big Timber« nenne, um die tatsächlichen Gegebenheiten im Unklaren zu lassen. Der Vorfall ereignete sich im Anschluss an eine Party, auf der sehr viel getrunken wurde. Ein Mann ging mit seiner Frau nach Hause und schlich sich dann wieder hinaus, ganz in Schwarz gekleidet und mit einer schwarzen Skimaske auf, kletterte an der Hütte einer alleinstehenden Frau hoch und spähte durch das Fenster im ersten Stock. Zu seinem Pech (und zu meinem Glück) wurde er entdeckt und demaskiert, und die Folgen begannen sich abzuzeichnen. Ich kenne die an diesem Vorfall beteiligten Personen nicht und ich will sie auch nicht kennen. Alles, was ich von dieser oder jeder anderen Geschichte will, ist, dem Widerhall eines einzigen Taktes der Wahrheit oder eines Geheimnisses oder eines Was-wäre-wenns zu lauschen, damit ich ihn summen und ein Riff dazu spielen kann.
     Los Angeles, Santa Barbara, die Sierra Nevada, die Wüste, das typische Unterholz, die sonnenbeschienene Brandung des Pazifik, die gezackten Blätter der Agaven und windgepeitschte Palmen – bis in meine Zwanziger war ich nie westlich des Hudson River gewesen, und als ich dann doch nach Westen ging, war es zuerst nach Iowa City und zur Schreibwerkstatt dort und dann schließlich nach Los Angeles und Santa Barbara. Es mag überraschen, wenn ich sage, dass das nördliche Westchester County, wo ich geboren und aufgewachsen bin (in Peekskill, dreißig Meilen flussaufwärts von Manhattan) provinziell ist, aber als ich ein Junge war, war es tatsächlich so, zumindest im Umfeld meiner Eltern. Ich wuchs in einem Arbeiterhaushalt auf, wo es weder Bücher noch eine Lesetradition gab, und wir wussten nicht viel von der Außenwelt, nicht einmal von der Großstadt mit all ihren kulturellen Glanzpunkten, die uns unendlich weit entfernt schien. Wir hatten einen Fernseher, und das Fernsehen beherrschte unseren Haushalt. Der graue Bildschirm erwachte zum Leben, wenn wir von der Schule oder von der Arbeit nach Hause kamen, und wurde abgeschaltet, wenn wir zu Bett gingen. Obwohl die Schulen in dem Ort eine solide, alle gleich behandelnde Ausbildung boten, habe ich damals nicht gelesen; ich war ein hyperaktives Kind, das Baseball spielte, durch den Wald streifte und sich vorwiegend aus Ärger heraushielt. Meine Mutter las mir vor, als ich klein war, und sie war es auch, die mir das Lesen beibrachte, da ich zu ungeduldig und zu unreif war, um im Unterricht still zu sitzen; aber die früheste Erinnerung an den Nervenkitzel von erfundenen Geschichten habe ich aus meinem Englischunterricht in der achten Klasse der Lakeland Junior Highschool, als Mr. (Donald) Grant uns freitags vorlas, falls wir brav gewesen waren, und wir waren wirklich sehr brav. Mr. Grant war Amateurschauspieler und er hat uns mit so ollen Kamellen wie To Build a Fire von Jack London und The Most Dangerous Game von Richard Connell mitgerissen. Wir sind zitternd aus dem Unterricht gekommen.
     Darwin und die Geowissenschaften traten etwa zur gleichen Zeit in mein Bewusstsein, und ich sagte meiner Mutter, ich könne nicht mehr an die römisch-katholische Lehre glauben, die uns, solange ich denken konnte, sonntags in die Kirche getrieben hatte. Es ist ihr hoch anzurechnen, mitfühlend, wie sie war, dass ich das alles dann nicht mehr musste, und ich nehme an, dass ich seitdem nach etwas gesucht habe, das diese Lehre ersetzt. Und was habe ich gefunden? Die Kunst und die Natur, die Zwillingsgottheiten, die Wordsworth und Whitman und all die anderen aufrecht erhalten haben, deren Erfahrungen zu kompliziert wurden, als dass ein Glaube sie hätte fassen können. Mit siebzehn Jahren fand ich mich an der State University of New York in Potsdam wieder, und zwar in der Musik-Abteilung, als begeisterter Schüler von John Coltrane und blitzschneller Techniker am Saxophon und an der Klarinette. Leider hatte ich kein Gefühl für die Art Musik, die wir spielen sollten, und ich fiel beim Vorspielen durch. Aber immerhin war ich an der Uni und geriet direkt in die kalte Umarmung der Existenzialisten einerseits und der erlösenden Gnade von Flannery O’Connor, Saul Bellow und den Dramatikern des absurden Theaters andererseits. Wenn ich einen entscheidenden Moment wählen musste, war es der, als ich zum ersten Mal A Good Man is Hard to find von Flannery O’Connor für einen Englischkurs las: Das war die Sorte von Geschichten, die Erwartungen zunichte macht, die in einer Erzählweise beginnt – Situationskomik, wie man sie aus dem Fernsehen kennt – und sehr böse und wunderbar in einer anderen endet. Und ich hatte gedacht, es gäbe Regeln.
     Ich wohnte damals in einer Pension in einer baumbestandenen Straße und ertrug die arktischen Temperaturen in Potsdam, die Stürme, die an den Fenstern rüttelten und den gefrierenden Regen, der alles mit einer glänzenden Schicht überzog, sodass die ganze Welt kristallin und gefährlich wurde. Wenn die Temperatur auf dreißig Grad unter Null fiel, sprang kein Auto mehr an, selbst wenn man großzügig Äther in den stählernen Schlund des Vergasers sprühte. Das war kein Problem. Jedenfalls nicht zuerst, nicht, bis ich die Liebe und die lebenswichtige Bedeutung des Rücksitzes entdeckte. Wir wohnten – mal zu sechst, mal zu siebt oder acht, ausschließlich Männer – in drei Zimmern im Obergeschoss eines Hauses mit Holzrahmen, das einer Witwe gehörte, die 1911 Ballkönigin in Potsdam gewesen war und die von uns als »meinen Jungs« sprach. Die Zimmer waren mit altertümlichen Möbeln vollgestellt, die einen Geruch nach längst vergangenen Zeiten verströmten, aber sie waren dem Zweck angemessen, und hier begann ich mit meinen ersten rudimentären Versuchen in dieser Form – der Form der Kurzgeschichte – die später mein Leben beherrschen sollte. Allerdings muss ich zugeben, dass ich weder ein guter noch ein pflichtbewusster Student war. Dennoch habe ich unheimlich viel gelesen, eher das, was aktuell war als das, was wir lesen sollten und ging mit einer lückenhaften Ausbildung ab (Hauptstudium in zwei Fächern, Geschichte und Englisch, plus ein kurzes Jahr in Krishna Vaids Kurs für kreatives Schreiben), aber ich brannte für die Kunst. Woran erinnere ich mich aus dieser Zeit? An die Angst vor dem Ekel, den mir Sartre in den Schoß warf, und an ein nagendes, unbestimmtes Verlangen, das mich in den geisterhaften Stunden nach Schließung der Bars allein auf den hohen stählernen Dachsparren des halbfertigen Bibliotheksgebäudes herumspuken ließ, um im frostigen Wind bei Temperaturen um minus zwanzig Grad Celsius die Zukunft zu erahnen.
     Ich erinnere mich an Tipp-Ex, den Gipfel der technologischen Perfektion, der umso unwiderstehlicher war, als das Gerücht umging, Bob Dylans Mutter habe es erfunden. Ich erinnere mich an Dylan und die Anleitung, die Rock’n’Roll mir an die Hand gab, Jahre bevor ich meine musikalischen Impulse bündelte und selbst eine Band gründete, indem ich meine Wut und meine Verwirrung herausbrüllte, bis mein Körper starr wurde und meine Kehle sich zuschnürte. Ich erinnere mich an die Olivetti Reiseschreibmaschine, auf der ich alles tippte, was ich je geschrieben hatte – Geschichten, Essays, Briefe, Notizen – bis der Computer sie überflüssig machte. Und ich kann immer noch die Genugtuung heraufbeschwören, die es mir bereitete, eine saubere, fertige Fassung von etwas, das einen Wert zu haben schien, einen großen Wert, einen Wert sowohl für mich als auch für die ganze Welt, auf frische, zerknitterte Bögen von Schreibmaschinenpapier zu tippen.
     Dann kam die Zeit der Hippies, und das ist der Punkt, wo sich meine Erinnerungen verfestigen. Ich war schon immer zielstrebig (viel zu zielstrebig, würden viele andere sagen), und ich neige dazu, mich in etwas hineinzustürzen, mit allem, was mir zur Verfügung steht. Ich war der Hippie aller Hippies, voller Glückseligkeit und mit so typischen Hippie-Klamotten, dass die Leute mich auf der Straße angesprochen und gefragt haben, ob sie bei mir LSD kaufen könnten. Was ich nicht konnte. Und auch nicht wollte. Das wäre zu … habgierig gewesen. Musik durchpulste mein Hirn, die Musik, die damals dem Zeitgeist entsprach. Ich wohnte ich den verschiedensten Häusern zusammen mit den verschiedensten Menschen, aber dann ließ ich mich auf eine Beziehung mit einer anmutigen Frau ein, die mir Mut machte und die den Finger am Puls der Zeit hatte, meine Frau in der ganzen Zeit mit Umzügen und Büchern und Kindern, und ich las hungrig, besessen, auf der Suche nach etwas, das ich nicht genau benennen konnte. Meine tastenden Versuche brachten Geschichten hervor, die damals »experimentell« genannt wurden, spielerische Versuche, herkömmliche Erzählmuster zu vermeiden und sie in ihre Einzelteile zu zerlegen. Damals entdeckte ich auch Robert Coover und seine klaren, lyrischen, supercleveren und auf bösartige Weise komischen Geschichten, und ich merkte, dass sein Werk das, wonach ich blindlings gestrebt hatte, perfekt verkörperte. Dann kamen Barthelme, Borges, Cortázar, Pynchon, Barth, Calvino, García-Márquez, Autoren einer Periode, in der niemand jemals »nie« sagte und in der es kein Format gab, das nicht ausgequetscht, gemolken und ausgeformt werden konnte.
     Ich veröffentlichte meine erste Kurzgeschichte – eine der »experimentellen« – in der North American Review im Jahre 1972 unter der Ägide von Robley Wilson Jr., dem ich ewig dankbar sein werde. Aufgrund dessen bewarb ich mich bei der Schreibwerkstatt in Iowa und wurde angenommen, und mein Leben als Schriftsteller fing wirklich an anzufangen. Jetzt hatte es mich erwischt. Jetzt war ich erwachsen. Jetzt wusste ich, was ich vom Leben wollte, und das verfolgte ich mit Hingabe und Zielstrebigkeit. Meine Professoren im Workshop – Vance Bourjaily, John Irving und John Cheever – gaben mir genau das, was ich am meisten brauchte, sie gaben meinem Selbstvertrauen Auftrieb, und meine Professoren in der Englisch-Fakultät, wo ich den Doktortitel in Britischer Literatur des neunzehnten Jahrhunderts erwarb, gaben mir das Fundament, das ich während der Jahre als unzufriedener Student nicht hatte aufbauen können. Der Grund dafür? Ich dachte mir, wenn ich Schriftsteller werden wollte, könnte es tatsächlich hilfreich sein, einiges zu wissen.
     Und ja, ich war mir durchaus bewusst, dass formale Bildung ein Gräuel war, zumindest für die Autoren aus der Generation vor meiner eigenen. Cheever, der stets freundlich und großzügig zu mir war, war regelrecht sauer wegen meiner akademischen Ziele, die seiner Meinung nach keinen Platz in einer künstlerischen Laufbahn hatten, aber ich bestand darauf, weil nichts und niemand mich von etwas abhalten kann, was ich mir in den Kopf gesetzt habe, sei es im Guten wie im Schlechten. Und so ging ich nach meinem Abschluss nach Los Angeles und gründete das Programm für kreatives Schreiben an der University of Southern California, wo ich ununterbrochen lehrte, bis ich im Herbst 2012 Writer in Residence wurde. Die Universität erwies sich als Segen für mich. Sie gab mir Bodenhaftung, ich kam aus dem Haus und auch aus mir selbst heraus, sie bot mir die kostbare Gelegenheit, die Kunst des Schreibens bei vorwiegend jungen Leuten, die noch formbar und ebenso begeistert wie ich waren, regelmäßig zu bewerten, zu fördern und zu diskutieren.
     Cleever war es auch, der mich sanft zurechtwies, weil ich den vernichtenden Ausdruck »experimentell« verwendete, ebenso wie Tom Whitaker, der damals The Iowa Review herausgab, wo ich zunächst als stellvertretender Redakteur für Belletristik arbeitete (unter Robert Coover) und später, während meines letzten Jahres dort, als eigenständiger Lektor für Belletristik. Cheever bestand darauf, dass jede gute Belletristik experimentell sei – und das stimmt natürlich auch – und führte sein eigenes Werk The Death of Justina als Beispiel an. Ich habe seinen Standpunkt verstanden. Und in den 1980ern und bis in die 1990er stand ich unter dem Einfluss seiner Erzählungen und denen von Raymond Carver, der in der Zeit, als ich in Iowa war, ein Freund wurde. Während ich am Anfang mehr an Sprache, Aufbau und Idee als an den Charakteren einer Geschichte interessiert war (und das wird, glaube ich, in Band I deutlich), so wurde ich, als ich als Romanautor wuchs und bewunderte, was Carver und Cheever und viele andere im weniger »experimentellen« als traditionellen Stil leisteten, auch mit dem Aufbau von Geschichten um Charaktere herum immer vertrauter.
     Während ich in Iowa war, schickte ich immer wieder Geschichten an große und kleine Zeitschriften, und beharrlich ging ich wieder und wieder am selben Tag, an dem eine Geschichte ungeliebt und nicht erwünscht zurückkam, zur Post und schickte sie an den nächsten aussichtsreichen Kandidaten auf meiner Liste, in der abwechselnd vergeblichen, masochistischen und trotz allem optimistischen Hoffnung, dass Geschichte und Redakteur zusammenpassten. In den fünfeinhalb Jahren, die ich dort verbrachte, wurden etwa dreißig Geschichten angenommen, jedesmal Anlass für eine Party, bei der ich die Geschichte jedem vorlas, der sich nicht wehren konnte, und für einen Ausflug zu irgendeiner dunklen Kneipe, die so exotische Kost wie Pizza und Bier im Tausch gegen bloßes Geld anbot. Aufregende Zeiten. Ich war so auf das Kommen des Postautos fixiert, dass ich das Quietschen der Bremsen, das dieses ankündigte, schon zwei Straßen entfernt erkennen konnte. Natürlich gab es jede Menge Ablehnungen – ich klebte die Ablehnungsschreiben auf Plakatwände und heftete sie an die Wand meines Schlafzimmers, das mir als Büro diente, bis alle vier Wände bedeckt waren, worauf ich auf das praktischere, aber weniger selbstgerechte System zurückgriff, sie in Aktenordnern zu verstecken.
     Ich hatte das Glück, schon früh Geschichten in Esquire, The Paris Review, The Atlantic und Harper’s – und später in The New Yorker und im Playboy – unterbringen zu können und eine enge Arbeitsbeziehung mit Redakteuren wie George Plimpton und Lewis Lapham einzugehen. Es bedeutete die Welt und ganze Universen für mich, dass ich ich nicht einfach blind etwas herausschickte, sondern dass es da draußen Redakteure gab, die sich tatsächlich auf das freuten, was ich als nächstes schreiben würde. George Plimpton nahm in den Siebzigern und Achtzigern so viele meiner Geschichten für The Paris Review an, dass er einmal im Spaß meinte, er denke daran, die Zeitschrift in The Boyle Review umzubenennen; und sein Einfluss und seine Freundschaft waren von unschätzbarem Wert. Er gab mir das Gefühl, gebraucht, um nicht zu sagen wertgeschätzt zu werden. Auf der anderen Seite zeigten mir die Redakteure von The New Yorker in jener Zeit die kalte Schulter, bis sie dann schließlich Anfang der Neunziger einen meiner Texte brachten, aber sobald die Zeitschrift den Besitzer gewechselt hatte und Tina Brown und ihr Redakteur für Belletristik, Bill Buford, in den Vordergrund getreten waren – und jetzt deren Nachfolger David Remnick und Deborah Treisman – erschien der Großteil meiner Erzählungen auf den Seiten dieser Zeitschrift. Ja, ich hatte großes Glück, vor allem mit meinem Lektor Paul Slovak, mit dem ich an meinen letzten vierzehn Büchern gearbeitet habe, und mit meinem Agenten Georges Borchardt, der mich noch während meines Studiums aufgenommen hat, und seitdem mein Anwalt, mein Fürsprecher und Heiler meiner Wunden ist. Wenn es George nicht gäbe, würde ich nicht hier sitzen und diese Verteidigungsschrift pro vita sua schreiben.
     Beim Lesen der in dem neuen Band versammelten Geschichten wird mir schließlich klar, dass ich auf die Frage nach dem Warum eingehen muss, auf die Frage nach dem, was mich und so viele andere Autoren in meinem Umfeld dazu treibt, Geschichten zu erfinden, selbst angesichts der allgemeinen Gleichgültigkeit der Welt. Als Studenten in Iowa erregte uns die Vorstellung, dass wir Teil von etwas Wichtigem waren, etwas sehr Wichtigem, und wir waren ebenfalls freudig erregt über die Lesungen und öffentlichen Auftritte der Meister dieser Literaturgattung, die zu unserer Unterhaltung in die Stadt kamen – Borges, Updike, Vonnegut, Barthelme, Leonard Michaels, John Gardner, Grace Paley und viele, viele andere. Und ich erinnere mich noch an einen Studenten, der nach einem von Stanley Elkins unglaublichen Auftritten seine Hand hob (uns war bewusst, dass wir nicht in den ersten drei Reihen sitzen durften, wegen der umherfliegenden Speicheltropfen, wenn Stanley sich wie ein Schauspieler in Rage redete) und fragte: »Mr. Elkin, Sie haben eine fantastische Sammlung von Geschichten geschrieben – warum schreiben Sie nicht noch mehr?« Stanleys Antwort: »Kein Geld damit zu verdienen. Nächste Frage.«
     Geld hin oder her, ein Schriftsteller schreibt. Das Erschaffen von Kunst – das Erschaffen von Geschichten – ist eine Art Sucht, wie ich in einem früheren Aufsatz dargelegt habe, This Monkey, My Back. Man fängt mit nichts an, öffnet sich, schwitzt und ängstigt sich und blutet, und am Ende hat man etwas. Und wenn man das einmal hatte, will man es nochmal haben. Und nochmal. Und nochmal. Eine gute Kurzgeschichte hat eine elementare Kraft, man erwacht, und da ist etwas Neues und Unerwartetes, sei es zwischen den Seiten eines Buches oder auf den Lippen eines Schauspielers in einem verdunkelten Theatersaal, wo die Worte nackt dastehen und dich zurückführen zur allerersten Stimme, die je in deinem Inneren widerhallte.
     Ich bin auf meine Art auch zu einem Schauspieler geworden, der regelmäßig seine Geschichten auf der Bühne präsentiert und den beständigen Pulsschlag des Publikums in der Dunkelheit spürt. Anfangs traute ich dieser Beziehung nicht recht und trug nur lustige Geschichten vor, ich war abhängig von der einfachen Befriedigung, die es mir bereitete, wenn das Gelächter des Publikums zu mir brandete. Doch dann fing ich an, dunklere Sachen zu vorzutragen wie Chicxulub, und ich spürte, wie Tragik und Horror von uns Besitz ergriff; ich und das Publikum wurden an einen Ort versetzt, an dem wir nie in unserem wirklichen Leben, außerhalb der Fiktion, zu sein hoffen. Ich werde die Frau in Miami nie vergessen, die eines Abends nach einem Drittel der Geschichte anfing laut zu schluchzen. Ihr schrecklicher Kummer erschütterte und fesselte uns alle. Ich wollte innehalten und ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen machen müsse, dass alles nur Schein sei, so etwas wie Voodoo-Zauber, um die Willkür in der Welt in Schach zu halten, aber es gab kein Halten und sie ließ sich nicht trösten: Sie erlebte die Geschichte wirklich und ich nicht.
     Darin liegt eine beängstigende Kraft und auch eine beängstigende Verantwortung. Jeder von uns nimmt die Welt entsprechend seiner Sichtweise wahr und soweit die Erregungsmuster unserer Sinnesorgane es erlauben, und ich kann nur hoffen, die Welt auf meine ganz persönliche Weise einzufangen, um die Phänomene widerzuspiegeln, die in jedem bewussten Moment auf uns eindringen, während sie erscheinen und wieder verschwinden. Ich will spielerisch und ernsthaft sein, forschend und phantasievoll, neugierig und noch neugieriger, und ich möchte keine Ablenkungen. Ich mache keine Musik mehr, ich schreibe keine Zeitungsartikel oder Drehbücher oder Historisches. Ich treibe keinen Sport und löse keine Kreuzworträtsel und bastle nicht an Motoren herum – das ist alles zu viel. Kunst – die Tätigkeit, die damit verbunden ist – das beansprucht mich und schließt alles andere aus. Ich habe jeden Tag das Privileg, die Welt zu betrachten, wie sie sich mir darbietet, und sie in eine völlig andere Form zu transformieren, in genau die Form, die ich von vornherein geschaffen hätte, wenn ich der Demiurg oder der ursprüngliche Schöpfer gewesen wäre – der Eine, das Wesen, die Macht, ob Geist oder Zufallsprinzip, der dieses ganze wahnsinnige Leben in Gang gesetzt hat.


Nach dem Vorwort zu T.C. Boyle Stories II: The Collected Stories of T. Coraghessan Boyle, Volume II. Verwendung des Textes bei www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T. Coraghessan Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann. Verwendung der Darstellung mit freundlicher Genehmigung von T. Coraghessan Boyle.