Ein Interview mit T.C. Boyle. Geführt von Sascha Krüger – für das Interview-Magazin GALORE, am 28. September 2003 in Santa Barbara.
GALORE: Es ist schön hier in Santa Barbara. Sehr vornehm, still und entspannt. Hier lässt es sich bestimmt hervorragend neue Romane und Geschichten schreiben. Die Aufgabe, der Sie seit nunmehr drei Jahrzehnten nachgehen.
T.C. Boyle: Vollkommen. Es leben gute Menschen hier. Nette Leute. Viele davon haben bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Es gibt immer viel zu erzählen an einem Nachmittag wie diesem. Außerdem sind die Farben so intensiv hier. Schauen Sie sich nur die Pflanzen an: Sie wirken wie angesprayt. Das macht das Klima hier am Meer.
GALORE: Das Klima macht noch etwas anderes: Nebel. Vorhin in Los Angeles, eineinhalb Stunden Fahrt von hier, hatte es weit über 30 Grad und brennende Sonne. Hier ist dichter Nebel und rund 15 Grad kühler. Ist das immer so?
T.C. Boyle: Häufig. Am Nachmittag reißt es meistens auf, aber auch dann wird es nicht so heiß. Ich mag den Nebel auch sehr.
GALORE: Warum das?
T.C. Boyle: Er deckt alles zu, wie ein Winterschlaf. Alles fährt runter, die Geschwindigkeit des Lebens, das Gefühl, dein eigener Biorhythmus. Die Sonne hingegen macht dich kirre mit der Zeit. Mit ein Grund, warum die Menschen in L. A. alle glauben, sie stünden ständig unter Zeitdruck. (lacht) Gleichzeitig ist es hier deutlich kühler, das hält dich wach. Ruhig, aber wach: ein begrüßenswerter Zustand. Ich bin einfach kein Sonnenmensch.
GALORE: Ich muss mich im Übrigen noch für meine Verspätung entschuldigen. Ich habe diese Bar hier nicht auf Anhieb gefunden.
T.C. Boyle:: Macht nichts. Ich wäre sowieso hier gewesen. Ich bin oft im Peabody’s.
GALORE: Der Name taucht in anderen Zusammenhängen auch schon mal in Ihren Büchern auf. Sie mögen den Ort?
T.C. Boyle: Sehr. Es ist mein Sonntag-Nachmittags-Platz. Ich esse meine Lieblings-Tortillas, trinke ein paar Gläser Rotwein, treffe Freunde, schaue mit ihnen auf den Boden ihres Bierglases. Oder sehe mir ein Spiel an (im Hintergrund läuft ein Baseball-Spiel). Mit Männern Mannschafts-Sportarten im Fernsehen gucken und die Gespräche führen, die man in solchen Situationen führt: Das ist ein guter Sonntagnachmittag.
GALORE: Und es ist sicher ein guter Ausgleich zu Ihren ganzen Lese-Reisen. Allein nächsten Monat reisen Sie drei Wochen durch Europa, treten fast jeden Abend live auf.
T.C. Boyle: Das stimmt. Hier komme ich nach Hause nach einer langen und anstrengenden Tournee.
GALORE: Warum tun Sie sich den Stress überhaupt noch an?
T.C. Boyle: Meine Frau hat schon vor ein paar Jahren aufgehört zu fragen, warum ich mir alle paar Monate diese 22-Städte-Lesereisen antun muss. Sie sagt inzwischen nur noch: »Jaja, ich weiß schon. Du musst es tun. Und du hast diese Horden von fantastischen Fans. Die wollen dich sehen.« Und ich sage: »Yeah! But it’s not enough! It’s never enough!« In solchen Momenten, auf der Bühne, spürt man die direkte Reaktion auf seine Arbeit, den Austausch. Deshalb mag ich zum Beispiel auch die Lesungen in Deutschland immer sehr, ihr habt ein sehr enthusiastisches Publikum. Und groß!
GALORE: Sind Sie ein Performer?
T.C. Boyle: Ja. Ich liebe es, auf der Bühne zu sein. Ich liebe es, raus zu gehen und anderen meine Geschichten vorzulesen. Je mehr, desto besser.
GALORE: Diese Bühnenauftritte sind doch nichts anderes als eine Reminiszenz an den Umstand, dass Sie gerne Rockmusiker geworden wären, oder?
T.C. Boyle: Gut erkannt. Ich wäre gern Musiker geworden. Aber dazu fehlt mir etwas. Man kann nur eine Sache im Leben richtig gut machen.
GALORE: Spielen Sie heute noch Saxophon oder Schlagzeug? Oder treten als Sänger auf mit Ihrer Band The Ventilators?
T.C. Boyle: Nein. Wobei das Singen mir noch am meisten Spaß gemacht hat. Ich war beschissen als Sänger, aber es hat Spaß gemacht. Es ist inzwischen nur noch ein Hobby, wie man ja auch an den katastrophal schlechten Proberaummitschnitten aus den Achtzigern auf meiner Homepage sehen kann.
GALORE: Gibt es die Ventilators noch?
T.C. Boyle: Nein, obwohl wir gerade über eine Reunion nachdenken. Ist ja sehr angesagt derzeit, sich als Band wiederzuvereinigen. (lacht) Aber ich weiß nicht, wie das funktionieren soll. Musik kostet sehr viel Zeit, und das Schreiben lastet mich voll aus. Du musst proben, du musst Songs schreiben, du musst auf Tour gehen. Du musst es so gut machen, wie es eben in deiner Macht steht. Sonst solltest du es gleich lassen. Die Arena, in der ich zum weltweiten Wettbewerb antrete, ist nun mal die Literatur. Wenn du etwas mit Leidenschaft, mit Obsession tun willst, kann es immer nur eine Sache sein.
GALORE: Geht es in einem intensiven Leben immer um Obsession?
T.C. Boyle: Für mich selber gesprochen: ja. Natürlich wechseln die Obsessionen. Entweder du bist besessen von Arbeit oder du bist besessen von all den anderen Dingen, die interessant scheinen, und diese sind zumeist die sehr viel gefährlicheren Verlockungen. In meinen frühen Zwanzigern ist mir das sehr schnell klar geworden: Entweder du stirbst, oder du findest eine andere Obsession, die dich befriedigt. Also habe ich alles in die Arbeit gesteckt.
GALORE: Irgendeine Form von Extremismus und Abhängigkeit ist also immer da – man muss nur versuchen, sie in die richtigen Bahnen zu lenken.
T.C. Boyle: There is always an addiction. Wenn du jung bist, ist es der Selbstzweifel und das Gefühl des Nichtsseins, die Suche, die dich förmlich abhängig macht. Jeder findet seinen eigenen Weg daraus, seine eigene Obsession, die dieses ewige Suchen ersetzt. Drogen sind da ein vielerprobtes Mittel. Aber mir war klar, dass ich ein Riesenproblem bekommen würde, wenn ich nicht zügig die Reißleine ziehe. Also habe ich gearbeitet. Ununterbrochen. Anfangs nur, um die Stunden zu füllen.
GALORE: Und inzwischen seit 30 Jahren kontinuierlich durch: Sie schreiben im Schnitt einen Roman und ein Buch mit Kurzgeschichten im Jahr, treten überall auf der Welt live auf und unterrichten seit 25 Jahren an der University of Southern California. Die Obsession lässt nicht nach?
T.C. Boyle: Zumindest nicht spürbar, nein.
GALORE: Dabei wäre ein Abschalten, ein Runterkommen von Zeit zu Zeit doch mal ganz schön.
T.C. Boyle: Das ist exakt der Punkt. Aber es geht nicht. Und bislang ist ja auch noch die Energie da. Wie es bis jetzt läuft schätze ich, dass ich das parallele Schreiben und Unterrichten noch durchziehen kann, bis ich vielleicht 95 bin. Danach könnte es enger werden.
GALORE: Sie schreiben, so heißt es, bedingungslos sieben Tage die Woche. Woher kommt die Energie?
T.C. Boyle: Schauen Sie mich an, dann haben Sie die Antwort. Ich werde rein physisch immer weniger. Ich brenne mit einer hohen Flamme. Aber es geht eben nicht anders. Ich versuche es ja. Kürzlich erst wieder: Da habe ich mir das Haus in den Bergen gemietet, das ich häufig bewohne, um dort etwas zu vollenden. Dieses Mal war es mein nächster Roman Dr. Sex, ich hatte das Haus für einen Monat gemietet. Nach weniger als zwei Wochen war ich fertig. Ich traf mich mit Freunden, bin tagelang durch den Wald marschiert, habe ordentlich getrunken. Aber nach nur wenigen Tagen habe ich mich wie automatisch wieder hingesetzt und einfach losgeschrieben. Es sind dann direkt ein paar Kurzgeschichten für meinen nächsten Band entstanden.
GALORE: Was ist das Unangenehmste und Schönste daran, vom Schreiben besessen zu sein?
T.C. Boyle: Das zweifellos Traurigste ist, dass die Menschen das Lesen verlernen. Es ist eine antiquierte Kulturform, es ist die Kunst von gestern, in der heutigen Welt vollkommen irrelevant. Menschen lesen zur Informationsbeschaffung, aus rein technischen Gründen. Sie lesen immer seltener etwas wegen seiner Schönheit, für die reine Stimulanz des Geistes. Das Schöne am Schreiben ist hingegen, dass das vollkommen egal ist, weil ich trotzdem weiterschreibe. Ich tue es sowieso, ob sich nun jemand darum schert oder nicht.
GALORE: Sie sagten in einem Aufsatz: »Das Schreiben ist in der Top 5 der populärsten Künste auf Platz vier abgerutscht, nur noch knapp vor dem Malen. Gegen die Musik, den Film und inzwischen auch das Kreieren von Spielen hat das Schreiben keine Chance.« Ist es um das geschriebene Wort tatsächlich so schlecht bestellt? Keine junge Generation, die als Gegengewicht zu der ganzen Fast-Food-Kunst wieder Spaß am Lesen hat?
T.C. Boyle: Ich möchte nicht zu zynisch klingen, aber ich beobachte wenige 16-Jährige auf der Straße beim heimlichen Schmökern in Literatur-Klassikern. Das ist ja auch ein Grund, warum ich so verbissen unterrichte, denn dort finde ich eine junge Generation, die vollkommen obsessiv dem Schreiben verfallen ist. Aber das Grundproblem ist doch: Für junge Menschen ist die moderne Gesellschaft eine äußerst stressige Angelegenheit, da ist einfach nicht viel Zeit, um sich mit einem guten Buch in sein Zimmer zurück zu ziehen.
GALORE: Das ginge schon: Einfach weniger Computergames zocken. Oder bekifft mit Freunden rumhängen.
T.C. Boyle: Das genau ist ja der Punkt. Lesen ist – neben dem gemalten Bild vielleicht – die Kunstform, die am Stärksten an deine Phantasie und Vorstellungskraft appelliert. Du musst bereit sein, ausschließlich kraft deiner Vorstellungsgabe in andere Welten abzutauchen, dich in andere Menschen zu versetzen. Genau das ist für einen Großteil der jüngeren Generation das Problem. Für sie ist das keine Option. Sie kennen das gar nicht. Sie wissen nicht, wie das geht, weil ihre Sinnesreize vom Babyalter an mit allen nur erdenklichen Welten und Szenarien zugemüllt werden. Beobachten Sie doch nur die Leute, die sich am Flughafen mit Unterhaltung für einen langen Flug eindecken: ein Computerspiel, obendrauf einen bekloppten Vampirfilm, zum Lesen höchstens ein Lifestyle-Heftchen. Wenn du sie fragst warum sie kein Buch kaufen, sagen sie dir: »Reading sucks, man. Bücher sind langweilig.« So denkt 90 Prozent der westlichen Weltbevölkerung.
GALORE: Sind Sie im Leben genauso manisch wie im Schreiben?
T.C. Boyle: Um das zu beantworten, muss ich Ihnen ein wenig von meiner Frau erzählen. Ihre Eltern sind zu einem Teil ungarisch, zum anderen Teil deutsch, leben aber schon lange in den Staaten. Ihre Eltern und ihre sieben Geschwister sind wie Weinbergschnecken – du musst sie anstoßen, um rauszufinden, ob sie leben. Sie sind unendlich zufrieden. Sie sitzen auf der Couch, trinken ihr Bier. Keine Ambition. Nur existieren. Sie sind sehr glücklich damit. Das ist schön, das ist wundervoll, aber ich kann das nicht. Es geht nicht. So gesehen bin ich sicher manisch.
GALORE: Braucht wirkliche Kunst das Manische, den Wahnsinn? Oder reicht es, ein gewisses Talent zu haben und den Wunsch, einmal etwas wirklich Gutes zu schreiben? Wie ein ambitionierter Handwerker?
T.C. Boyle: Es gibt wahnsinnig viel gutes Talent da draußen – eine Sache, die mich ja so sehr am Unterrichten begeistert. Eine Menge junger Leute haben eine unglaubliche Gabe. Man schaue sich nur die ganzen jungen Musiker an, darunter sind fantastische Songschreiber, außergewöhnliche Menschen. Genauso ist es mit den jungen Schreibern. Aber es reicht nicht, es einfach zu wollen. Dazu gehört mehr. Du musst Biss haben. Du musst es machen und zu Ende bringen. Viele schreiben ein Buch und driften dann ab Richtung Film oder Musik. Oder sie versinken ein paar Jahre in Belanglosigkeit und schreiben auf einmal das Buch ihres Lebens. Und warum? Weil sie den wahnsinnigen, besonderen Moment in diesem Buch eingefangen haben. Zum besonders Guten gehört eben das Extreme, Manische dazu.
GALORE: Sie schreiben: »Ich bin über die Jahre zu einem Schriftsteller mit Weisheit und Reife geworden« …
T.C. Boyle: Das habe ich gesagt? (lacht laut heraus) Dass ich über die Jahre zu einem Schriftsteller mit Weisheit und Reife geworden bin? Wow.
GALORE: Es steht auf Ihrer Homepage, in dem autobiografischen Essay von Ihnen über das Schreiben.
T.C. Boyle: Ich denke, ich wollte einen Witz machen.
GALORE: Es liest sich aber nicht wie einer. Und es ist ja auch ohne jede Arroganz schlicht die Wahrheit.
T.C. Boyle: Tja, das stimmt wohl. Wäre ja auch schlimm, wenn ich nach all den Jahren nicht ein wenig Weisheit und Reife gewonnen hätte. Aber das Gute ist: Es ist nie genug. Man will immer mehr.
GALORE: In dem Essay schreiben Sie auch darüber, dass sich eine Geschichte mehr oder weniger von selbst schreibt; der Autor müsse nur einem gewissen Pfad folgen. Das ist ein sehr unromantischer Blick auf den kreativen Prozess.
T.C. Boyle: Finden Sie?
GALORE: Ja, es fehlt dabei diese mystische, nicht beschreibbare Komponente, das, was viele mit dem Kuss der Muse beschreiben.
T.C. Boyle: Vertrauen Sie mir, es ist schon viel Mystisches am Schreiben. Die besondere kreative Leistung des Autoren ist: Du begibst dich in einen unbewussten Geisteszustand, wenn du an deiner Kunst arbeitest. Der Leser weiß nicht, was auf der nächsten Seite passiert, aber er will es erfahren. Nicht anders geht es dem Autor. Was mich immer wieder am Schreiben fasziniert, ist, dass jede einzelne Geschichte grundlegend anders ist als alles, was du zuvor geschrieben hast. Du weißt nicht, woher sie kommt, du weißt nicht, wie sie ausgeht. Deshalb fängst du immer wieder von vorne an. Du willst einfach wissen, wie die Geschichte zu Ende geht. Es macht dabei fast keinen Unterschied, ob du eine Geschichte liest oder schreibst.
GALORE: Die Geschichten sind immer da.
T.C. Boyle: Das sind sie. In diesem Frühjahr war ich in England, auf einer Lesereise zu meinem aktuellen Roman Drop City. Ich war in London und hatte einen Tag frei. Das Wetter war mies, der Fernseher in meinem Hotelzimmer war kaputt, ich konnte nicht mal einen Film sehen. Also saß ich elf Stunden am Stück auf der Couch und habe gelesen.
GALORE: Was haben Sie gelesen?
T.C. Boyle: Die Biographie von Neil Young, Shaky. Es war wunderbar, elf Stunden bei diesem komischen Typen und seinen fabelhaften Songs zu sein. Wissen Sie, was das ganze Buch zu mir gesagt hat?
GALORE: Nein.
T.C. Boyle: Es stand in einer einzigen Zeile, ein Auszug aus einem Interview, wo der Interviewer ihn fragt, wie er auf diesen oder jenen Song gekommen sei. Er sagte nur: »It just comes.« (lacht) So ist das auch mit den Geschichten.
GALORE: Sie haben also keine Ahnung, wie eine Geschichte ausgeht, an der Sie schreiben?
T.C. Boyle: Nein.
GALORE: Und die Personen?
T.C. Boyle: Die kommen mit der Zeit. Ich lerne sie auch erst nach und nach kennen.
GALORE: Was wissen Sie, wenn Sie anfangen?
T.C. Boyle: Ich habe gerne einen Titel, und ich möchte vorher wissen, wie viele Teile ein Buch hat, wie lang es ungefähr werden wird. Bei Grün ist die Hoffnung wusste ich zum Beispiel: Es wird vier Teile geben. Vier Jahreszeiten. Schließlich ging es um Marihuana-Anbau. (lacht) Aber was die Geschichten, ihre Entwicklung anbetrifft: Keine Ahnung. Just free form.
GALORE: Es gibt viele Autoren, die vor dem Schreiben eines Romans wie wild recherchieren, eintauchen in eine Szene, in ein Milieu – wenn sie nicht gar ohnehin nur über sich selber und ihr Umfeld erzählen. Würde man sie fragen, warum sie das tun, würden sie sicher antworten: »Weil man sonst nicht fundiert und glaubhaft darüber erzählen kann.« Sie sehen das wohl anders.
T.C. Boyle: Vollkommen. Das ist auch der Punkt, der die wirklichen, buchstäblichen Schreiber und Geschichtenerzähler von den Genre- oder Plauder-Schreibern unterscheidet. Ich hasse diese Genre-Autoren, die sich monatelang minutiös auf das Schreiben eines Romans vorbereiten müssen. Sie trivialisieren und verniedlichen unseren Berufsstand. Und sie töten die wahre Kreativität. Diese Menschen fahren beim Schreiben stur geradeaus auf der Mitte der Straße. Sie wissen schon vorher, auf welcher Seite der große Schockmoment kommt, wann die Vampire aus den Wänden treten. Sie wissen, wie oft die Protagonisten im Verlauf des Buches Sex haben werden. Sie wissen einfach alles vorher. That’s crap. Was ich an Literatur mag, ist ja gerade die Ungewissheit. Sie können jedes Buch von mir aufschlagen und anfangen zu lesen – ich wette mit Ihnen, Sie haben keine Idee, was auf Seite zehn passieren wird, bis sie dort angekommen sind. Der Grund ist: Ich weiß es selber nicht. Also kann ich gar nicht vorausschauend oder systematisiert schreiben.
GALORE: Nehmen wir Ihren aktuellen Roman Drop City, in dem eine Hippie-Kommune aus den Siebzigern von Kalifornien nach Alaska zieht. Allein die Art und Weise, wie präzise, bild- und metapherreich Sie das autarke, LSD-berauschte Leben dieser Aussteiger am Rande der Zivilisation beschreiben: Das geht vollkommen ohne Recherche?
T.C. Boyle: Die Frage ist, wie man Recherche definiert. Natürlich bin ich vor dem Schreiben des Buches nach Alaska gereist, habe dort ein paar Tage in einem winzigen Kaff verbracht, mich mit den kauzigen Einsiedlern, die dort wohnen, unterhalten, und auf Grundlage dieser Gespräche die Grundzüge einiger Charaktere entwickelt. Wie diese aussehen, was sie tun, welche Rolle sie spielen, was ihnen im Verlauf des Buches widerfährt: All das kommt erst beim Schreiben. Ohne diesen Überraschungsmoment, der für mich mindestens ebenso groß ist wie für Sie als Leser, würde ich die Lust am Schreiben verlieren. Es gäbe für mich sonst keinen Grund mehr, überhaupt noch zu schreiben.
GALORE: Etwas anderes, was Ihre Geschichten spannend macht, ist das Eintauchen in immer wieder andere Sujets. Wird es schwerer mit den Jahren, immer wieder einen neuen Ansatz, ein neues Sujet zu finden?
T.C. Boyle: Auch hier: Nichts ist konstruiert oder im Vorhinein ausgedacht. I just go with the flow. Das ist der einzige Weg. Bei Kurzgeschichten, das gebe ich gerne zu, wird es nicht unbedingt einfacher, weil ich so viele davon schreibe. Da passiert es mir schon mal, dass ich eine Geschichte schreibe und nach zwei Dritteln feststellen muss: »Hey, das hast du schon mal geschrieben.« Wenn das passiert, höre ich sofort auf. Aber da es in meinen Geschichten zumeist darum geht, Grenzen einzureißen und Menschen in extremen Situationen zu beobachten, sind die möglichen Blickwinkel auf eine Geschichte auch unendlich.
GALORE: Wie ist Ihr Verhältnis zu den Protagonisten, während Sie ihnen beim Schreiben Leben einhauchen? Nehmen wir zum Beispiel Ihren Roman América: Dort erzählen Sie die Geschichte einer jungen Mexikanerin. Einer Illegalen, die in den Canyons von Los Angeles campiert, kein Wort Englisch spricht und vergeblich versucht, sich eine Existenz in diesem Moloch zu schaffen. Wie können Sie so genau wissen, was eine solche Frau fühlt, denkt und tut? Sind Sie in solchen Momenten ein brillanter Chronist oder schizophren?
T.C. Boyle: Das ist ein sehr gutes Beispiel – ich habe für den Roman damals sehr viel Häme und Gegenwind einstecken müssen, weil man mir sagte: »Du kannst einfach nicht wissen, was in einem solchen Menschen vor sich geht. Das ist politisch nicht korrekt. Wie kann ein weißer, wohlhabender Typ über eine vollkommen mittellose, naive und hoffnungslos überforderte mexikanische Illegale schreiben?« Warum also? Ganz einfach: Weil es mein Job ist! Es ist das einzige, was ich wirklich gut kann! Ich könnte aus der Perspektive eines Hundes schreiben, wenn ich das will. Diese Fähigkeit habe ich mir über viele Jahre antrainiert.
GALORE: Wie gut das mit der Perspektive des Hundes funktionieren kann, hat ja schon Paul Auster in seinem Roman Timbuktu vorgemacht. Es ist die bewegte Geschichte eines streunenden Kläffers, der sein vermeintliches Heil in den Armen einer liebenden Familie findet, die ihn aufnimmt, sich am Ende aber doch wieder auf die Straße zurück sehnt.
T.C. Boyle: Sehen Sie? Ich bin nicht der einzige, der das kann. Jeder, der ein guter Geschichtenerzähler ist, kann das. Es ist meine verdammte Aufgabe, mittels Phantasie neue Welten zu kreieren. Es ist so dumm, einen Autoren auf diese Weise zu kritisieren, ihn zu limitieren, denn es entzieht ihm seine grundlegende Arbeitsplattform. Von den Beach Boys konnte auch mal gerade einer surfen – den Lifestyle der Surfer haben sie trotzdem sehr glaubhaft repräsentiert. Oder Filmemacher: Glauben Sie, dass ein Action-Regisseur jemals in seinem Leben kopfüber an einem Helikopter hing? Und doch kann er uns glaubhaft vermitteln, wie sich das anfühlt. Für einen Schreiber ist dieser Aspekt ungleich elementarer.
GALORE: Erfährt man über die Protagonisten Ihrer Bücher auch etwas über Sie selber?
T.C. Boyle: Natürlich tut man das. Aber hoffentlich ist es kunstvoll genug versteckt, dass man es nicht sofort bemerkt.
GALORE: Es gibt da einen Protagonisten, der sehr viel näher an Ihnen selbst zu sein scheint als die meisten anderen: Ty Tierwater aus Ein Freund der Erde. Er ist ein verbissener Naturschützer, er ist ein abgeklärter, sinnsuchender, ambionierter Mensch, den man trotz seiner radikalen Aktionen am Ende sehr lieb gewinnt. In ihm steckt eine Menge von T.C. Boyles Sicht auf die Welt, richtig?
T.C. Boyle: Gut beobachtet. Auch wenn ich wohl nicht so weit gehen würde wie er. Ich liebe die Natur, aber ich würde nicht in den Knast wandern wollen, nur um ein paar Holzrodungsmaschinen in die Luft zu sprengen.
GALORE: Wenn Ty Tierwater zum Beispiel sagt: »Ich brauche nichts und niemanden. Ich könnte meine Sachen packen, abhauen und in einem Tipi leben.« – könnte das auch ein T.C. Boyle sein?
T.C. Boyle: (lacht) Tja: Ty hat schon die gleichen Frustrationen wie ich. Er hat ein Problem mit der industriellen Gesellschaft, mit dem Konsumterror, mit diesen ganzen falschen Werten. Er möchte, wie ich, simpler und mehr im Einklang mit der Natur leben und nicht gegen sie. Doch er realisiert, dass das in Zeiten, in denen diesen Planeten sechs Komma irgendwas Milliarden Menschen bevölkern, eine vollkommen hypothetische, antiquierte Sichtweise ist. The whole world turns to shit. Der Glaube, alles werde sich zum Guten wenden und der Mensch werde vernünftig, ist naiver Idealismus.
GALORE: Ein andere Sache, die Ty sagt: »Ich versuche, Perspektiven zu vermeiden, wo es geht. Perspektiven verursachen Schmerzen. Lebe in der Gegenwart, sage ich immer. Vergiss die Geschichte, vergiss Nostalgie. Sie führt zu nichts.«
T.C. Boyle: Nein, das ist ganz klar Ty. Das kann ich ganz offensichtlich nicht unterschreiben. Natürlich bin ich auch frustriert darüber, wie sich die Dinge auf diesem Planeten entwickelt haben. Aber deshalb bin ich noch lange kein verbohrter Existenzialist, der die Schönheit seines eigenen Lebens nicht zu schätzen wüsste. Ich mag mein Leben bis hierhin sehr.
GALORE: Wie wär’s mit dem hier: »Habe ich erwähnt, dass ich die Vergangenheit hasse, die Gegenwart kaum aushalte und auch jede Form der Befragung über meine Zukunft verabscheue?«
T.C. Boyle: Vergessen Sie nicht: Ty ist ziemlich schrullig, er ist ein alter Mann, als er das sagt. Will ich also dahin kommen, wenn ich so alt bin wie er? Ich möchte hoffen nein. Aber wenn wir ehrlich sind, ist es nun mal so – alte Menschen sind so unglaublich selten zufrieden mit dem Weg, den ihr Leben nahm. Wird es also so kommen, dass ich in 25 Jahren das Gleiche sage? Wahrscheinlich. Nicht zuletzt, weil die ganze Welt dann schätzungsweise genauso am Arsch ist wie von mir in dem Buch beschrieben.
GALORE: Haben Sie als ein Mensch, der sehr aktiv für die Belange der Natur eintritt, jemals eine Erfahrung wie Ty Tierwater gemacht, der aus Protest gegen die massenhafte Baumrodung einen Monat lang ohne jede Hilfsmittel im Wald lebt?
T.C. Boyle: Nein. Ich bin mir auch absolut sicher, dass ich das nicht wollte.
GALORE: Obwohl Sie ein überzeugter Naturbursche sind?
T.C. Boyle: Obwohl ich die Natur liebe, ja. Aber im Gegensatz zu Ty kann ich nicht mal eben für einen Monat im Wald verschwinden. Meine Familie, meine Leser und nicht zuletzt mein Agent würden mir das wohl äußerst übel nehmen. Außerdem würde ich dünnes Kerlchen das schon rein physisch niemals durchstehen.
GALORE: Und doch schreiben Sie darüber wie ein Mensch, dem nichts vertrauter scheint. Kann beziehungsweise muss man dieses Gefühl, das Ty dort durchlebt, die Insekten in jeder Körperöffnung, die lebensbedrohlichen Entbehrungen, die Gedanken, die mit diesen Grenzerfahrungen einhergehen, irgendwie substituieren, um glaubhaft darüber zu schreiben?
T.C. Boyle: Es hilft natürlich, sich in eine tendenziell ähnliche Situation zu versetzen, aber grundsätzlich ist jede Geschichte eine Übung deiner Vorstellungskraft. Das Haus in den Bergen, von dem ich vorhin erzählte, ist so ein Ort der vollkommenen Natur. Ihr Deutschen habt zwar die Alpen, ihr kennt Berge, und doch ist es etwas anderes: Dieses Haus ist der pure wilde Westen. Ich komme aus New York – für mich ist dieses Haus Natur pur. Wenn ich dort oben bin, verbringe ich auch ganze Tage im Wald. Während ich an Drop City geschrieben habe, bin ich auch zum ersten Mal auf verschiedene Berggipfel geklettert, habe mir stundenlang die Outline der Gebirgszüge angesehen. Sicher: Wenn ich dann wieder zurück zum Haus komme, habe ich Elektrizität, einen Ofen, auf dem ich mir Essen machen kann, einen Videoplayer, auf dem ich Filme schauen kann. Gleichzeitig kann ich jederzeit draußen sein in dieser vollkommenen Wildnis. Auf diese Weise habe ich das Beste aus beiden Welten. Der optimale Zustand.
GALORE: Wie kann ein Mensch wie Sie, der dermaßen unmittelbar mit der Schönheit wilder Natur verbunden ist, sich für sie einsetzt, so nahe an einer überindustrialisierten, die Natur zerstörenden Megalopolis wie Los Angeles leben, ohne dabei verrückt zu werden? Der Smog. Der Müll. Die Überbesiedelung. Die unästhetisch zugebauten Hollywood Hills: Es gibt nicht viele Orte auf der Welt, die einem deutlicher machen, wie ultimativ der Mensch die Natur zerstören kann.
T.C. Boyle: Seltsam genug, nicht? Ich wuchs auf in New York, der größten Stadt der Vereinigten Staaten, und bin von dort in die zweitgrößte Stadt gezogen. Da sind wir wieder bei den Sachzwängen, den Kompromissen, die du als Individuum eingehen musst. Ich kam nach Los Angeles, weil mir an der USC ein Lehrstuhl angeboten wurde. In North Dakota oder den Wäldern Kanadas könnte ich wohl nur schlecht die besten Nachwuchs-Schriftsteller Amerikas unterrichten. L. A. war auch sehr gut zu mir. Ich habe hier sehr liebe Menschen kennen gelernt, einige der besten Freunde meines Lebens. In den Siebzigern und Achtzigern war es auch etwas anderes, dort zu leben – es war eine Boom-Stadt, es gab all die großartigen Clubs, es gab eine florierende Subkultur. Als all das nachließ, bin ich hier raus gezogen nach Santa Barbara, eben weil es mir zu viel wurde. Ich habe es dort nicht mehr ausgehalten. Hier bin ich wieder in einem kleinen funktionierenden Mikrokosmos. Ich finde direkt hinter meinem Haus intakte Natur vor, gleichzeitig kann ich zu Fuß zu meinem Arzt, meiner Lieblingsbar und zum Strand laufen. Auch hier finde ich eben das beste aus beiden Welten.
GALORE: Gibt es Dinge, die Sie an dem Los Angeles von heute mögen?
T.C. Boyle: Bis auf die Freunde: nicht wirklich. Wie kann man eine Stadt ohne wirkliche Geschichte, ohne echte Struktur gern haben? Eine Stadt, in der man ein Drittel des Tages damit zubringt, auf irgendwelchen Freeways im Stau zu stehen? Dass ich nach L. A. kam, war auch mehr ein Unfall – es war eben das Angebot der USC. Und ich habe in all diesem urbanen Schlamassel ein Umfeld gefunden, das mir als Individuum gefällt, gut tut. Mein Vorteil ist: Eigentlich passe ich hier überhaupt nicht hin. Ich bin immer ein Außenseiter gewesen, die meisten Menschen kommen mit meiner Art nicht klar. So ist es viel einfacher, jene zu finden, mit denen man auf einer ähnlichen Wellenlänge surft. Außerdem ist es hier abseits der Städte noch wirklich wild, in einer Weise, wie man es an der Ostküste nicht mehr findet. Die Berge sind absolut naturbelassen, dort gibt es noch echte Cowboys auf ihren Pferden, du findest Packesel und handbetriebene Wasserpumpen, du findest Elche und Bären und Klapperschlangen. Bis heute bin ich jedes Mal aufs Neue wieder beeindruckt, wie wild die Natur in Kalifornien noch immer ist, wenn man nur weit genug von der Zivilisation weg fährt.
GALORE: Allgemeiner gefragt: Wie fühlen Sie sich als Bewohner eines Landes, das als einziges von weit über hundert teilnehmenden Staaten die Beschlüsse der Klimakonferenz mit Füßen tritt? Erst recht, seitdem Sie Ihren egozentrischen, naturverachtenden Präsidenten haben?
T.C. Boyle: Es ist keine Frage, dass sich die Dinge akut verschlimmern, seit dieser Neofaschist an der Macht ist. Man kann nur hoffen, dass Bush sich mit seiner Inkompetenz selber negiert, dass seine Amtszeit so lang sein wird wie die seines Vaters: exakt eine Legislaturperiode. Zu der Zeit, als er an die Macht kam, saß ich gerade an Ein Freund der Erde, und ich dachte mir schon, dass die dort entwickelten Zukunfts-Utopien von einer tosenden Welt voller Naturkatastrophen mit ihm als Präsident sehr viel wahrscheinlicher werden. Eine Grundfrage, die ich mit diesem Buch behandeln wollte, ist die: Kann man im Einklang mit der Natur leben und gleichzeitig ein zivilisatorisches Leben führen, mit einer guten Ausbildung, mit guten Berufschancen, mit einer Lebensperspektive, die zu gleichen Teilen der Natur und der Konsumgesellschaft Rechnung trägt? Die Antwort ist: nein, nicht in letzter Konsequenz. Wer im Kapitalismus lebt, der lebt immer ein Stück weit gegen die Natur. Wir alle kaufen Produkte, deren Herstellung zu Lasten der Natur geht. Würden wir alle versuchen, autark zu leben, um der Natur keinen Schaden zuzufügen, würde die Wirtschaft den Bach runter gehen und uns im Umkehrschluss die Grundlage für Arbeit, für Geld und damit auch für Ausbildung entziehen. Das ist eine Problemstellung, die ich nicht lösen kann. Ich habe keine Idee, wie man es anders machen könnte. Ich kann mir nur Sorgen machen, und das tue ich, indem ich Bücher darüber schreibe.
GALORE: Kann man Phantasie und Vorstellungsgabe trainieren?
T.C. Boyle: Nein, das glaube ich nicht.
GALORE: Also haben schlicht manche mehr als andere.
T.C. Boyle: Das einzige, was man tun kann, ist, sich seiner Phantasie hinzugeben. Das kann im Prinzip jeder, nur die meisten tun es nicht. Sie haben entweder Angst davor, oder sie haben es vollkommen verlernt. Die Fähigkeit, sich für Phantasie, für Kunst jedweder Art zu begeistern, ist in dir. Sie ist angeboren. Jeder, der ein Künstler werden will, ist getrieben von diesem Bedürfnis, seine eigene Phantasie zu beflügeln. Dieses Bedürfnis hat nicht jeder, Kunst ist keine demokratische Sache, sie ist nicht fair. Warum kann er etwas, das ich nicht kann? Doch hast du erst mal entdeckt, dass dieses Bedürfnis in dir schlummert, bleibt dir keine andere Wahl mehr, als es bis auf die Spitze zu treiben, um zu sehen, wie weit du mit deiner Phantasie gehen kannst. Du willst dich einfach selber überraschen. Kunst kommt einfach aus dem Nichts. Morgen zum Beispiel: Da werde ich mit einem komplett neuen Roman beginnen. Ich habe letztens Dr. Sex beendet und elf Kurzgeschichten für meinen nächsten Sammelband geschrieben. Jetzt ist es Zeit für den nächsten Roman. Und ich habe noch absolut keine Idee, was da morgen auf mich zu kommt.
GALORE: Sie schreiben ohnehin schneller, als Ihren Verlagsvertretern lieb ist. Immer wieder gibt es von deren Seite die Anmerkung, dass man nicht in so schneller Abfolge Bücher eines Autors veröffentlichen sollte – es ist schlecht fürs Geschäft.
T.C. Boyle: Das stimmt. Aber das ist auch nicht so dramatisch. Je nach Thema funktionieren meine Bücher ohnehin in gewissen Regionen überhaupt nicht, fallen also auch nicht weiter auf.
GALORE: Zum Beispiel?
T.C. Boyle: Mein neues Buch, Dr. Sex, in dem es um den Kinsey-Sex-Report geht. Es ist sehr explizit, es geht viel ums Bumsen. Ich habe eine lange eMail-Konversation mit meinem französischen Verlag hinter mir, die von meiner Seite mit den Worten endete: »Am besten veröffentlichen wir es in Frankreich überhaupt nicht. Das Buch ist viel zu sexy für die Franzosen. So viel offensives Pimpern verträgt ihr Romantizismus nicht.« (lacht)
GALORE: Lesen Sie Ihre alten Bücher von Zeit zu Zeit?
T.C. Boyle: Nein, habe ich lange nicht mehr. Eine schöne Sache, viele gute Freunde zu haben, sind die Momente, wenn du auf einer Party ziemlich angetrunken durch ihr Haus taperst auf der Suche nach einem Klo und plötzlich in der Bibliothek landest. Da stehen sie alle, ordentlich nebeneinander aufgereiht: Deine eigenen Bücher! All das, was du über die Jahre geschrieben hast! Ich nehme mir in solchen Momenten schon mal ein älteres Buch von mir zur Hand, lese einen Absatz und denke: »Yeah man, that rocks! It’s great!« Aber normalerweise nehme ich keine alten Bücher von mir zur Hand. Wie ich schon vorhin sagte: ich möchte die nächste Geschichte kennen lernen und nicht die auffrischen, die ich schon kenne.
GALORE: Haben Sie ein persönliches Lieblingsbuch?
T.C. Boyle: Wassermusik.
GALORE: Das ist Ihr erster Roman. Warum gerade der?
T.C. Boyle: Er ist vollkommen wild. Außerhalb jeglicher Kontrolle. Als mein Agent und mein Lektor halb durch waren, sagten sie damals beide zu mir: »Schmeiß ein paar Nebengeschichten raus, das ist alles viel zu viel«, und ich entgegnete: »Das ist mir egal. So viel Arbeit muss schon sein, wenn man mein Buch lesen will.« So kompromisslos bin ich nie wieder gewesen. Und ich werde es wohl auch nie wieder sein.
GALORE: Es gibt wohl keinen populären zeitgenössischen Schriftsteller, der so viel Zeit auf das Schreiben von Kurzgeschichten verwendet – demnächst erscheint ihr siebtes Buch mit Sammlungen solcher Geschichten. Warum sind sie so wichtig?
T.C. Boyle: Zunächst: Ich habe als Autor von Kurzgeschichten angefangen und sie über viele Jahre geschrieben, lange bevor ich darüber nachdachte, einen Roman zu schreiben. Außerdem haben sie ihren ganz eigenen Reiz: Auch dort erzählst du eine Geschichte, aber nicht auf 300, 400 Seiten, sondern auf fünf, zehn oder 15. Ich liebe Kurzgeschichten. Und es ist auch etwas, das ich kann. Nehmen wir zum Beispiel John Irving, der im übrigen vor rund 30 Jahren einer meiner Mentoren an der Uni in New York war: Er schreibt nie Kurzgeschichten, er denkt einfach nicht in diesen Kategorien. Und er sagte damals auch: »Ich kann es einfach nicht, es liegt mir nicht.« Mir hingegen schon. Ich bin ein sehr glücklicher Mensch, beides zu können: lange und kurze Geschichten. Aber am Ende sind es immer Geschichten. Ich könnte zum Beispiel auch mal ein Drehbuch oder ein Theaterstück schreiben, aber ich tue es nicht. Weil es mir nicht liegt. Es wäre eine konstruierte kreative Situation. Was hingegen Kurzgeschichten und Romane angeht: Da fühle ich, dass ich beides gleich gut kann, also möchte ich mich auch beiden Literaturformen widmen.
GALORE: Warum gelten Kurzgeschichten verglichen mit Romanen gemeinhin als weniger wertig, werden häufig höchstens als nette Übung für zwischendurch, als Hausaufgabe im Kurs »kreatives Schreiben« betrachtet?
T.C. Boyle: In meiner Klasse habe ich einen jungen Mann, der ganz hervorragende Kurzgeschichten schreiben kann, aber von heute auf morgen damit aufgehört hat. Als ich ihn fragte warum, sagte er: »Damit ist kein Geld zu verdienen!« Nun, da hat er Recht. Zum Glück brauche ich mir darum aber keine Sorgen mehr zu machen. Aber es zeigt, warum die Kurzgeschichte zu einem vom Aussterben bedrohten Phänomen geworden ist.
GALORE: So gut Ihre Kurzgeschichten sind, haben Sie dennoch einen sehr traurigen Nebenaspekt: Die Charaktere der Geschichten werden häufig derart präzise und bildreich entwickelt, da möchte man einfach wissen, wie ihr Leben weiter geht. Bei jeder einzelnen Geschichte aus Ihrem letzten Kurzgeschichtenband Schluss mit cool dachte ich: Verdammt, was passiert als nächstes? Ich will diesen Menschen nicht schon wieder gehen lassen!
T.C. Boyle: Dabei dürfen Sie nicht vergessen: Es muss so sein. Ich habe allein, während wir dieses Interview führen, fünfzig neue Ideen für eine Geschichte. Soll ich all diese Ideen sausen lassen, nur um die eine künstlich zu verlängern, die Sie sich gerne ein wenig ausführlicher gewünscht hätten? Ich kann schon so gerade mal jede 500. Idee umsetzen, ihr Leben einhauchen. Das ist bereits schlimm genug. Nicht jede Geschichte kann ein Roman sein. Ich schrieb zum Beispiel neulich eine kleine Geschichte über einen Typen, der sich in eine Frau verliebt, die im gleichen Block wohnt wie er, und der sein ganzes Leben dazu benötigt, ihr diese Liebe zu beichten. Natürlich hätte diese Geschichte einen ganzen Roman füllen können, aber ich habe sie einfach schnell daher erzählt. Nun ist sie die Grundlage für einen Hollywood-Film, der in absehbarer Zeit gedreht wird. Das ist doch toll: Jemand anderes erzählt meine Geschichte in epischer Breite zu Ende, die ich nur sehr skizzenhaft entworfen habe. Und ich kann mich wieder neuen Geschichten widmen. Ich bin fertig mit der Story. Ich möchte nicht zurückblicken und das Gefühl haben: In der Geschichte hätte mehr gesteckt. Mich interessiert nur, was als nächstes kommt.
GALORE: Interessanterweise war ihre allererste Arbeit als Student des kreativen Schreibens ein Theaterstück. Davon verstehen Sie doch gar nichts, haben Sie gesagt. Wie kam’s dazu?
T.C. Boyle: (lacht) Naja, eben weil ich ein Student war und noch nichts vom Schreiben verstanden habe. Ich mag Theaterstücke, bis heute üben sie auch einen gewissen Einfluss auf meine Arbeit aus. Ich mag den Humor daran, das Unmittelbare des Dialogs, das Surreale.
GALORE: Sie haben danach nie wieder ein Theaterstück geschrieben, obwohl Ihre erste Arbeit damals sehr wohlwollend aufgenommen wurde.
T.C. Boyle: Nein, weil ich danach das wunderbare erzählerische Element der Geschichte kennen gelernt habe. Und das hat mich bis heute nicht mehr los gelassen. Das Erzählen hat für mich sehr viel mehr Bedeutung als die konstruierte Situation eines Stücks. Es geht um die Schönheit der Sprache, um Metaphern, um Bilder, die in dieser Form in einem Stück nicht möglich sind. In Stücken sprechen Menschen miteinander, alles andere wird lediglich figurativ dargestellt. In meiner Arbeit spielen Dialoge im Allgemeinen eine sehr untergeordnete Rolle. Nehmen Sie nur James Joyce oder Thomas Pynchon, zwei meiner frühesten Inspirationen: In ihren Werken finden Sie überhaupt keine Dialoge, nur das erzählerische Element. Das Erzählen einer Geschichte ist die älteste und natürlichste Stimme, die wir kennen. Nur das ermöglicht es dir, die unendlichen Möglichkeiten von Sprache zu nutzen. Alles andere, selbst die Lyrik, ist auf eine Weise limitiert.
GALORE: Thema Sprache: Jene verwenden Sie häufig in einer wunderbar augenzwinkernden Weise, indem sie konventionelle Begriffe in einen surrealen Kontext stellen und auf diese Weise eine ganz neue Ebene der Bedeutung des Begriffs kreieren.
T.C. Boyle: Genau das ist ja das Schöne an der Sprache: Jedes Wort kann etwas vollkommen anderes bedeuten, wenn man nur gewillt ist, es in einen anderen Kontext zu stellen.
GALORE: Unter dieser Prämisse fand ich eine Kritik zu Ihrem aktuellen Buch Drop City sehr eigenartig. Dort heißt es: »Die Figuren sind extrem nachvollziehbar, um nicht zu sagen stereotyp. Die Sätze sind konventionell bis zum Anschlag; kein Satz, den man sich unterstreichen, keine Idee, die sich ein anderer Autor klauen wollte.«
T.C. Boyle: Was kann ich sagen? Offensichtlich liegt der Mensch falsch. Ich weiß, dass es nicht so ist. Neulich gab ich ein Interview für die Titelseite der New York Times, in dem es ausschließlich um den möglichst kreativen Gebrauch von Sprache ging – der junge Mann, der mich interviewte, wollte nichts anderes wissen. Warum sollte er sich so verhalten, wenn meine Sätze so konventionell und langweilig sind? Man darf nicht vergessen: Ob und wie sehr Kritik an meiner Arbeit mich beeindrucken oder mitnehmen könnte, es wird nichts daran ändern, was und wie ich es tue. Ich schreibe so, wie ich fühle. Was ich diesem Kritiker also sage? Ganz einfach: »Tut mir leid, dass dir das Buch nicht gefallen hat. Ist hoffentlich beim nächsten anders.« Ich habe ohnehin ein Problem mit Kritikern. Sie sind die schlechteren Künstler.
GALORE: Wie meinen Sie das?
T.C. Boyle: Ich bin überzeugt, dass 95 Prozent der Literaturkritiker am liebsten selber Schriftsteller wären; nur fehlt ihnen das Talent. Sie sind so frustriert und verbittert über die Tatsache, dass sie selber keine ordentliche Geschichte zuwege bringen, dass sie lieber die Geschichten anderer in der Luft zerreißen. Grundsätzlich bin ich der Auffassung: Der Künstler ist der Held, der ehrenwerte Ritter, ein Kritiker ist höchstens Hofnarr, schlimmstenfalls Henker. Wir Künstler schauen sehr entspannt von oben auf die Kritiker, ihre abstrusen Theorien und ihren gewollt artifiziellen Jargon herab. Um einen britischen Ausdruck zu verwenden, den ich sehr mag: Wir pissen auf sie von einer großen Höhe. Es ist ein sehr langer Urinstrahl, glauben Sie mir. Was genau zeichnet den Kritiker überhaupt aus? Nichts! Jeder von uns ist ein Kritiker, jeder von uns hat eine Meinung. Wir beide könnten uns heute Abend einen Film zusammen ansehen und morgen eine Rezension darüber für die L. A. Times verfassen – kein Problem. Warum? Weil das jeder kann, der eine Meinung hat. Außerdem geht es beim Schreiben um vieles, nur nicht darum, jedermann zufrieden zu stellen. Wenn ich das wollte, würde ich für Reader’s Digest schreiben. Oder Groschenromane.
GALORE: Mal ganz abgesehen davon, dass es Ihnen offenbar ein diebisches Vergnügen ist, Kritikern neues Futter zu geben.
T.C. Boyle: Absolut. Es gab schon einige Romane von mir, die im amerikanischen Literaturbetrieb derart verrissen wurden, dass man glauben könnte, sie würden mich am liebsten an einem Stock über dem Lagerfeuer grillen. Das ist großartig, ich mag das! Ich bin gerne ein Provokateur, ich bin glücklich, das tun zu können und trotzdem so viele Bücher zu verkaufen, dass ich davon äußerst komfortabel leben kann.
GALORE: Warum gibt es in Ihren Büchern vor lauter Realismus immer so wenig Raum für Hoffnung? Kein Platz für Romantik, Happy Ends, etwas fürs Herz?
T.C. Boyle: Ich frage Sie: Was hätten wir davon?
GALORE: Ein gutes Gefühl am Ende eines Buches. Ein wenig Hoffnung, dass die Welt doch nicht so scheiße und abgezockt ist, wie wir immer vermuten.
T.C. Boyle: Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen: Vor zehn Jahren hielt ich eine Vorlesungsreihe an einer anderen Universität. Ich las eine ganze Reihe von – meiner Auffassung nach – extrem lustigen Geschichten aus meinem Fundus, und nach ein paar Sitzungen sagte einer der Studenten: »Können Sie nicht mal was Fröhliches vorlesen? Ihr desillusionierter Blick auf die Welt macht uns ganz depressiv!« Was lernen wir daraus? Ich bin offenbar ein depressiver Typ. Nur merke ich das nicht, denn ich genieße das Leben, ich erfreue mich an jedem einzelnen Tag. Was andere also als depressiv auffassen, ist für mich Normalität.
GALORE: Wie gehen Sie damit um?
T.C. Boyle: Zynismus. Wenn du Scheiße schon nicht ändern kannst, dann lache wenigstens drüber. Der Punkt, der meine Feinde wohl am meisten aufregt, ist, dass ich ein verdammt glücklicher Mensch bin. Das macht manche von ihnen geradezu verrückt, sie wollen mich dafür umbringen, dass ich sie mit der schonungslosen Wahrheit über diese Welt konfrontiere und dabei auch noch glücklich bin. Weil sie selber das nicht können. Was schreibe ich denn schon auf? Ich schreibe über die Magie des Lebens, über dieses unbeschreibliche, einzigartige Phänomen des menschlichen Daseins in all seinen Ausprägungsformen. Und ich schreibe darüber so realistisch wie möglich. Dafür soll ich also gehasst werden, nur weil einige wenige Traumtänzer und weltfremde Idealisten die Wahrhaftigkeit des Lebens nicht aushalten? Jeder hat seine eigene Art und Weise, damit umzugehen, dass wir Tiere auf einem relativ großen Stück Stein mit einer eigenartigen Zusammensetzung von Gasen sind, und keiner weiß warum und wie das alles zusammen hängt. Ich schreibe eben darüber, das ist meine Art.
GALORE: So gesehen ist Schreiben eine andere Form von Religion.
T.C. Boyle: Exakt beobachtet. Ich schreibe über die Dinge, die uns alle vor dem Einschlafen wach halten, die manche Menschen Priester werden lässt, die so viele Menschen zur Religion treibt: Was bringt uns Morgen? Wie wird sich etwas entwickeln? Was wird sein? Das ist das Thema. Und so weit ich dieses Thema verstehe, hat es einfach etwas deprimierendes an sich. Niemand weiß, was kommt. Und alle ahnen, dass es nicht gerade besser wird. Zwei Milliarden Menschen leben ohne festen Wohnsitz. Es gibt immer mehr Lebewesen einer Sorte auf einem viel zu kleinen Planeten. Das Tempo der Zerstörung anderer Spezies beschleunigt sich immer mehr. Und ich bin überzeugt davon, dass auch für unsere Spezies ein Crash bevorsteht. Es muss einfach, weil die Welt andernfalls implodieren wird. Dabei liebe ich die menschliche Spezies, besonders die Frauen. Aber es ist vorbei, ich kann das sehen. Es wird gar nicht mehr lange dauern. Vielleicht noch nicht in dieser oder der nächsten Generation, aber verglichen mit der gesamten Evolutionsgeschichte ist das Ende sehr nah.
GALORE: Mit dieser Lebenssichtweise muss man wohl depressiv werden. Oder eben zynisch.
T.C. Boyle: Das sag ich doch. Wenn du über diese Zusammenhänge schreibst, dich tagtäglich damit auseinander setzt und Szenarien erfindest, die einen Bezug zum wahren Leben haben sollen, dann gibt es einfach keinen Ausweg aus diesem Realismus. Natürlich muss man irgendwie darauf reagieren, aber da gibt es die unterschiedlichsten Wege. Es kann schon sein, dass manche Leser Ein Freund der Erde lesen und sich anschließend am liebsten an der Duschstange aufhängen würden. Das tut mir leid, ehrlich. Aber ich bin nicht dafür verantwortlich. Es ist einfach die Wahrheit. Zumindest meine. Denn bei aller Diskussion um die Welt: Am Ende drücke ich nur das aus, was ich persönlich sehe und fühle.
GALORE: Wenn Schreiben eine andere Form von Religion ist: Brauchen Sie dann die kirchliche Religion? Das Thema spielt in Ihren Büchern so gut wie keine Rolle.
T.C. Boyle: Bis zu meinem 13. Lebensjahr wurde ich streng römisch-katholisch erzogen. Mein Vater hatte als Kind in einem römisch-katholischen Waisenhaus in Irland gelebt, das ihn stark geprägt hat. Meine Mutter war ebenfalls sehr katholisch. In New York wuchs ich dann aber in einer jüdischen Gemeinde auf, in der die Religionszugehörigkeit ziemlich egal war – tatsächlich waren sie alle auf ihre Weise Atheisten. Sie versuchten, smarter zu sein als der Rest, lustiger, individueller – all das widerspricht der Idee von Religion. Sie alle waren getrieben von einer sehr bizarren Form von Glauben an sich selber, nicht so sehr an eine Kirche oder an einen Gott. Als ich also in die Pubertät kam, sagte ich zu meiner Mom: »Ich habe die Bibel gelesen, bin mit in die Kirche gegangen, ich hab’s versucht. Aber irgendwie mag ich an all diesen Zinnober nicht glauben.« Und sie sagte: »Okay, es ist dein Leben. Ich möchte nur für dich hoffen, dass du diese Entscheidung niemals bereust.«
GALORE: Haben Sie sie bereut?
T.C. Boyle: Nein, wenngleich ich im Verlauf der Jahre meiner Studien der Welt heraus gefunden habe, dass auch die Wissenschaft purer Voodoo-Zauber ist. Die Wissenschaft gibt vor, eine Antwort auf drängende Fragen der Welt zu haben, und ein paar Dinge sind mittlerweile vielleicht auch erklärbar: Wir haben das menschliche Genom getroffen, wir wissen das ein oder andere über Krankheiten, wir können dieses Glas hier vom Tisch schmeißen, es wird runterfallen und kaputt gehen – das ist Physik. Aber die einzigen wichtigen Dinge, die, die wir wirklich beantwortet wissen möchten, werden wir niemals erklären können. Das macht die Religion ja gerade so attraktiv für manche Menschen, weil sie glauben, dort Antworten zu finden. Doch was mich betrifft: Ich kann einfach nicht dem Kirkegaard’schen Gedankensprung zustimmen, der besagt: Du kannst ruhig an Gott glauben, gerade weil es so absurd ist an ihn zu glauben, weil alles gegen seine Existenz spricht. Also glaube dran – das Gegenteil wird ohnehin nie bewiesen. Würde ich gerne akzeptieren, diese Einstellung, geht aber nicht. Ich habe es immer gehofft, aber mittlerweile glaube ich, das wird nichts mehr.
GALORE: Wenn alles Voodoo und mystischer Unfug ist, selbst die Wissenschaft: Woran soll man dann noch glauben?
T.C. Boyle: Das ist ja das Deprimierende. Alles, was nach dieser Theorie noch übrig bleibt, ist die Einsicht, dass das alles hier nur ein großer Unfall ist, und dass der Mensch auch nichts weiter ist als ein zufällig entstandenes, wildes Tier. Warum habe ich eine Frau und drei Kinder? Weil ich Sex mag, den animalischen Trieb! Woher kommen denn Gedanken wie: »Heiße Braut! Will ich flachlegen!«, wenn eine schöne Frau zur Tür reinkommt? Weil wir alle dieses Animalische in uns tragen. Es ist der ewige Kampf zwischen Seele und Verstand, der uns zwischen den Extremen pendeln lässt. Schauen Sie sich nur die katholische Kirche an, die ihren Nonnen und Priestern das grundlegende animalische Bedürfnis der Fortpflanzung entzieht: Es funktioniert nicht! Sie landen am Ende bei kleinen Jungen oder Prostituierten! Also muss das falsch sein. Was hingegen richtig ist: Ich habe keine Ahnung.
GALORE: Ein wenig schimmert da die Hippie-Ideologie von Drop City durch: Lebe im Einklang mit der Natur, freie Liebe für alle, keine Besitzansprüche, die Welt ist ein magischer Ort. Würden Sie gerne die Zeit zurückdrehen, noch einmal das naiv und positiv verklärende Weltbild der Hippies leben?
T.C. Boyle: Been there, done that. Hat ja auch nicht funktioniert. Der Grund, warum ich gerade jetzt über diese Ära geschrieben habe, ist: Seit jüngster Zeit, seit Beginn des Informationszeitalters und des gläsernen Menschen, ist diese Lebensidee endgültig jüngere Geschichte. Es wird nicht mehr so nostalgisch verklärt, wie noch in den Büchern von Tom Wolfe, Ken Keesey oder Tom Robbins. Es wird mittlerweile verstanden: Es hat nicht funktioniert. Dieser Lebensentwurf ist vollkommen utopisch. Was ich mit Drop City wollte, ist einen vollkommen unkomischen, ungeschönten Tatsachenbericht über eine Ära schreiben, die an ihren eigenen Ambitionen zu Grunde ging. Alle, auch die Hippies, mussten irgendwann einsehen, dass man unmöglich mit so vielen Menschen auf ein und demselben Planeten leben kann, ohne ihn zu absorbieren, mit Landwirtschaft und Zivilisation zu bedecken und somit am Ende zugrunde zu richten. Menschen sind Alpha-Raubtiere, wie Grizzlybären oder Haie. Und Alpha-Raubtiere können nun mal nicht im Einklang mit der Natur leben, weil sie sich von ihr ernähren. Sie haben zudem einen großen Bedarf an Nahrung – es muss also jemand anderes darunter leiden. Und sie brauchen Platz, weil sie eigentlich keine Herdentiere sind. Nun: Für den Menschen, das inzwischen am Abstand weit verbreitetste Alpha-Raubtier, wird’s langsam eng auf diesem Planeten. Deshalb bin ich ja auch so überzeugt davon, dass demnächst der große Knall kommt und uns alle abholt. Es sind nicht mehr genug Ressourcen für alle da.
GALORE: Eingangs sprachen wir über Obsessionen, Abhängigkeiten. War es nur die obsessive Arbeit, die Ihnen aus Ihrer Heroin-Sucht geholfen hat?
T.C. Boyle: Die Arbeit und die Liebe meiner Frau. Sie war bereits damals meine Freundin. Ohne sie und das erschreckende Erlebnis, dass ein guter Freund von mir sich den goldenen Schuss gesetzt hat, wäre ich aus dieser Sucht wahrscheinlich nicht herausgekommen. Ich habe sehr bescheuerte Dinge getan, mein Leben riskiert, meine Daseinsberechtigung als Mensch. Sie müssen sich vorstellen: Ich habe schon gedrückt, als ich noch als Lehrer an einer Schule in New York tätig war. Die Liebe meiner Frau, die Arbeit und das glücklicherweise rechtzeitig einsetzende Gefühl, dass es so nicht weiter geht, haben mir aus der Sucht geholfen.
GALORE: Sie haben damals, auf dem Höhepunkt Ihrer Abhängigkeit, angefangen, Kurzgeschichten zu schreiben.
T.C. Boyle: Das stimmt.
GALORE: War das Schreiben, der kreative Prozess ein anderer?
T.C. Boyle: Nur in der Form, dass diese Aufgabe, das Schreiben als solches, neu für mich war. Mein Lebensinhalt bestand damals daraus, in den richtigen Clubs abzuhängen, einen Haufen Deadheads zu treffen, high zu werden und den Tag zu verplempern. Durch das Schreiben habe ich entdeckt, dass es noch etwas anderes in meinem Leben gibt, was mich zutiefst mit Befriedigung erfüllt. Ich habe dadurch kapiert, dass diese Typen, mit denen ich rumhing, nichts anderes waren als ein Sack voller Junkies, die keine Bücher lesen, keine Inspiration haben und den ganzen Tag über das große Nichts diskutieren. Dank des Schreibens habe ich entdeckt, dass Rebellion auch anders funktionieren kann als Drogen zu nehmen. Beim Schreiben selber hingegen gab es keinen Unterschied. Ich habe an einem bestimmten Punkt meines Lebens einfach die »Reset«-Taste gedrückt und von vorne angefangen.
GALORE: Was treibt einen intelligenten jungen Mann mit einem Job, einem festen Wohnsitz und einer liebenden Freundin zu einer Droge, die bereits nach dem ersten Schuss abhängig macht?
T.C. Boyle: Zunächst: Es ist ein nur Mythos, dass du beim ersten Schuss abhängig wirst. Das stimmt einfach nicht. Und zweitens: Es gibt nun mal so etwas wie Selbsthass und Selbstzerstörung, und dieses Phänomen hat mich wohl mehr als andere erwischt. Du musst Junkie sein wollen, um einer zu werden. Es ist eine ganz klare vorsätzliche Entscheidung. Du willst dir Schmerz zufügen und gleichzeitig einen Ausweg aus dem Schmerz deines Lebens finden. Manche Menschen glauben eben, dass Heroin da der beste Ausweg aus diesem Dilemma ist.
GALORE: Ist jemals eines Ihrer drei Kinder auf Sie zugekommen mit dem Wunsch, es einmal mit Drogen zu probieren?
T.C. Boyle: So weit sie mich darüber in Kenntnis gesetzt haben: nein. Das ist ja das Schöne an einer jungen Generation: Sie muss sich immer gegen die Gewohnheiten und Sichtweisen der Eltern auflehnen, das exakte Gegenteil tun. In meinem Fall bedeutet das: Meine Kinder sind extrem straight, weil ihr Vater all diesen Ausstiegsscheiß schon gemacht hat. Sie studieren hart, sie konzentrieren sich auf ihre Ziele. Rebellion heißt heutzutage: Clean bleiben, Ziele haben, das Slackertum der Eltern verachten.
GALORE: Haben Ihre Kinder Ambitionen zu schreiben?
T.C. Boyle: Meine Tochter schreibt, ja. Sie hat demnächst ihren ersten großen Auftritt auf einem Schreiber-Festival in New York. Sie scheint bereits auf einem guten Weg zu sein, eine brillante Schriftstellerin zu werden. Was das Schöne ist: Ihre Geschichten sind in jeder vorstellbaren Beziehung vollkommen anders als meine eigenen.
GALORE: Das müssen sie auch – sonst gäbe es da wohl den lebenslangen Wettkampf-Gedanken: Werde ich besser als mein Vater? Wie emanzipiere ich mich? Das Kirk- und Michael-Douglas-Drama auf Schreiberebene.
T.C. Boyle: Vollkommen richtig! Ich bin auch selber sehr froh, dass es so ist. Ähnlich ist es mit meinen Studenten: Kaum einer hat einen ähnlichen Stil wie ich. Im Gegenteil: Sie versuchen sich bewusst abzusetzen von den Impulsen ihres Mentors.
GALORE: Was ist das Schlimmste an unserem Planeten?
T.C. Boyle: Menschen. Ohne sie wäre alles in Ordnung. Oder nein: Männer. Frauen sind toll. Ich liebe sie. Frauen würden den Planeten niemals in einer Weise zerstören, wie es der Mann tut. Unsere Spezies ist außer Kontrolle. Der Mann sollte viel stärker über eine zentrale Frage nachdenken: Sind die Dinge wirklich existent, nur weil wir sie wahrnehmen? Wir glauben so vieles wahrzunehmen, zu realisieren, was lediglich in unserem kranken, fehlgeleiteten Geist existiert. Wenn es uns nicht mehr gibt, wird es auch all die Dinge, die wir als globales Problem ansehen, von heute auf morgen nicht mehr geben. Unsere Wahrnehmung ist doch ein einziger Scheiß. Nehmen Sie nur meinen Hund: Er ist zu Hause, ein paar Minuten Fußweg von hier, und er kann uns riechen. Er weiß, dass wir hier sind. Können Sie ihn riechen? Hören? Spüren? Also: Warum nur kommt der Mensch immer wieder auf die Idee, das Lebewesen mit den optimalen Voraussetzungen zu sein, um diese Welt zu beherrschen?
GALORE: Worüber sollten wir alle mal mehr nachdenken?
T.C. Boyle: Wir sollten alle mehr darüber nachdenken, mindestens 70 Prozent unseres Einkommens darauf zu verwenden, T.C.-Boyle-Bücher zu kaufen und den verbleibenden Rest an Arme, Bedürftige oder Naturschutz-Organisationen zu spenden. Und wir sollten überall auf der Welt, in jeder einzelnen verdammten Stadt, T.C.-Boyle-Buchshop-Baracken errichten, die so groß sind, dass dort mindestens vier Obdachlose leben können, die sich mit dem Verkauf meiner Bücher ihr Leben finanzieren. (lacht)
Das Interview mit T.C. Boyle erschien in einer gekürzten Fassung in der Erstausgabe des Interview-Magazins GALORE. Veröffentlichung des gesamten Interviews auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von Sascha Krüger. Foto: Milo Boyle, Santa Barbara 2003. Verwendung des Fotos auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle.