Von T. Coraghessan Boyle

Deutsch von Ulrich Tepelmann

 

Mein Dank geht an diejenigen, die hier gepostet oder mir eine E-Mail zu den jüngsten Anschlägen in Santa Barbara geschrieben haben. Dies ist das zweite Mal in etwas mehr als zehn Jahren, dass ein Psychopath in Isla Vista, im Herzen der Universität von Kalifornien in Santa Barbara, wahllos Menschen ermordet hat. Im Jahr 2001 war es der Sohn eines Filmregisseurs, der sein Auto absichtlich in eine Menschenmenge in der Sabado Tarde Street lenkte und dabei vier Menschen tötete, und jetzt ist es, irgendwie unheimlich, der Sohn eines anderen Regisseurs, der mit Schusswaffen, Messern und ebenfalls mit Hilfe seines Autos Amok läuft. Mein Mitgefühl gilt den Opfern und ihren Familien. Und ich möchte auch nur zu gern wissen, warum unsere Gesellschaft nicht nur Schizophrenen (und auch jedem anderen, was das betrifft) den Zugang zu automatischen Waffen erlaubt und dann die daraus resultierende Gewalt verherrlicht. Dies ist das Thema des Romans, den ich Ende des letzten Sommers fertiggestellt habe, Hart auf hart, in dem ich versuche, die Geisteshaltung eines solchen Individuums zu verstehen und die Wurzeln seiner Gewalttaten auf eine tiefe Unzufriedenheit und eine tiefe Abneigung gegenüber Autoritäten in der amerikanischen Kultur zurückzuführen. Tragischerweise – und auf ewig, so scheint es – springt uns das Thema immer wieder an.
     Während des Anschlags von 2001 war ich zu Hause, aber meine Söhne waren nur eine Stunde zuvor am Schauplatz des Verbrechens gewesen und hatten den angesehenen Burrito-Laden in Isla Vista aufgesucht, weil sie – verzeiht ihnen – Hunger hatten. Diesmal war ich in New York und erfuhr von dem Ereignis, als ich auf der Geburtstagsfeier eines alten Freundes in den ruhigen, vom Quaken der Frösche erfüllten Gefilden des Lake Valhalla war. Die Menschen schauten auf ihre Smartphones, und so bekamen wir alle das mit, was als neuester Keil in die amerikanische Gesellschaft getrieben wird und sie auseinander zu reißen droht. Wen mache ich verantwortlich? Genau den feigen Kongress und die feigen Lobbyisten der National Rifle Association, die der Vater eines der Opfer beschimpft hat. Ja, wir haben das Recht, Waffen zu tragen, genauso wie wir das Recht haben, unsere eigenen Haare in Brand zu setzen, aber es bringt uns um. Buchstäblich.
     Also. Was habe ich in New York gemacht? Ich habe meinen Agenten und meinen Lektor getroffen und schaffte es, ein bisschen vom Spätfrühling auf dem Lande zu genießen. Ich verbrachte ein paar Tage im Norden des Bundesstaates in einem Haus am Hudson, etwas nördlich der Bear Mountain Brücke und in Sichtweite von World’s End. Tatsächlich steuerte ich eines Nachmittags (als ausgewiesene Landratte) ein Segelboot auf dem Rückweg von der tiefsten Stelle des Flusses, auf die sich der Titel meines Romans von 1987 bezieht, und das Boot lag die meiste Zeit nur etwa zwei Zentimeter über der Wasseroberfläche. Wirklich überall Wasser. Aber das war gar nichts im Vergleich zu dem Abenteuer, das einem weniger unerschrockenen (oder tollkühnen?) Menschen wie mir das Leben hätte kosten können. Hier kommt es:
     Später Nachmittag, die Flut steigt. Ein Alleingang mit dem Kanu bis zur Bahnunterführung, die in das dahinter liegende Sumpfgebiet führt. Ich wollte bei Flut losfahren, damit das Wasser möglichst hoch steht für die Erkundung der verschlungenen Pfade besagten Sumpfgebiets und seiner Bewohner in ihrem Zustand natürlicher Glückseligkeit. Aber was wäre, wenn ich mich nur ein kleines bisschen verrechnet hätte? Die Öffnung ist vielleicht zwei Meter breit und ein knapper Meter hoch und verläuft etwa zwölf Meter lang unter den Gleisen durch. Ich dachte mir, dass ich es schaffen könnte, obwohl das einströmende Wasser nur wenige Zentimeter Luft über dem höchsten Punkt des Bugs des Kanus (und des entsprechenden Punkts beim Heck) ließ. Kein Problem: Ich legte mich flach auf den Rücken und arbeitete mich und das Kanu mit den Händen an der Zementdecke der Unterführung vorwärts. Fühlte sich das wie in einem Sarg an? Ja. Sehr ähnlich. Okay, ich kam also fast ganz durch – und hätte es auch ganz geschafft, wenn die Decke nicht etwas uneben gewesen wäre, genauer, am hinteren Ende niedriger, so dass das Kanu weder vor noch zurück konnte. Das Wasser rauschte herein. Das Kanu saß fest. Ich nehme an, ich hätte einfach daliegen und ertrinken können, während das Wasser stieg, aber ich entschied mich stattdessen, mich bis auf meine Boxershorts auszuziehen und mich durch den etwa dreißig Zentimeter hohen Spalt über der Bordwand des Kanus zu zwängen, hinein in die reißende Strömung, die mich bis zu einer Stelle mitriss, wo ich mich an ein paar Ranken festhalten konnte und mich durch ein Treibhaus voller Giftefeu das Ufer hinauf zu den Bahngleisen ziehen konnte. An denen entlang ich zurück zum Haus lief, halbnackt und barfuß, mit schmerzenden Füßen. (Ihr Pendler auf der Metro North Linie, das war ich, der da entlanghumpelte, als ihr vorbeischosst.)
     Doch was wurde aus dem Kanu? Nun, ich zog mich an, nahm eine Angelrute, kehrte zurück zu der Öffnung und wartete. Als die Flut fünfundvierzig Minuten später zurückging, schoss das Kanu heraus, in das ich mich wie eine große weiße Spinne fallen ließ, und das Ganze hatte mir nicht viel anhaben können. Das nenne ich ein Abenteuer. Ach, habe ich schon die Temperatur des Wassers erwähnt? Oder die fette Wasserschlange, die für kurze Zeit das Abenteuer mit mir teilte? Huck Finn hätte es gefallen. Und mir auch. Und ich habe auch eine Lektion gelernt: Hab‘ Geduld. Oder, wie Frau Boyle es ausdrücken würde: Verlasse nie die Couch, egal aus welchem Grunde, es sei denn, das Haus steht in Flammen.
     Genug von meinen Abenteuern (und es gibt noch mehr zu erzählen, doch das wird auf eine andere Gelegenheit warten müssen). Der Mai war ein langer, ereignisreicher Monat. Ich flog nach Boston, um den Henry David Thoreau Preis für das Schreiben über die Natur entgegenzunehmen, für den ich besonders dankbar bin, und umrundete den Walden Pond in Begleitung von Karen Wulf, Heidi Pitlor und Dale Peterson vom PEN-Club Neu-England. Am meisten beeindruckt hat mich die Nachbildung von Thoreaus Hütte, die genau dieselben Ausmaße hat wie die, welche mein Freund Tom Ripollon Anfang der Siebziger Jahre bewohnt hat und die die imaginäre Behausung des imaginären Tom Crane aus World’s End darstellte. Nach meiner Rückkehr war ich begeistert, meinen deutschen Übersetzer, Dirk van Gunsteren, und seine Freundin, Katja Amberger, für zwei Tage hier im einst so friedvollen Santa Barbara bewirten zu können (siehe das obenstehende Foto, das uns drei und auch eine etwas widerwillige Frau Boyle zeigt). Ach, das waren noch Zeiten! Gewalt lag in der Luft, aber wir wussten noch nichts davon. Die Sonne ging auf, und sie ging unter. Das Meer kam herein, das Meer wich zurück. Und als die Nacht hereinbrach, schliefen wir den Schlaf der Unschuldigen und Furchtlosen.


Im Original erschien der Text am 05. Juni 2014 auf www.tcboyle.com. Veröffentlichung des Textes auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann.