Von T. Coraghessan Boyle

Deutsch von Ulrich Tepelmann

 

Um diese Zeit, um Thanksgiving herum, bin ich für vieles dankbar, aber jetzt gerade vor allem dafür, dass mein Herumreisen für dieses Jahr endlich zu Ende ist. Ich bin gestern am späten Nachmittag aus New York zurückgekommen, wo ich auf der Bühne des Symphony Space auf der Veranstaltung Selected Shorts ein paar Worte sagte, um die diesjährigen Best American Short Stories zu würdigen, die von Jennifer Egan herausgegeben wurden, die auch den Abend moderiert hat. Ich schlich mich dann zurück ins Publikum, um Dylan Bakers lebendige und höchst unterhaltsame Lesung meiner Kurzgeschichte Die Nacht des Satelliten zu erleben. Danach nahm ich an einer Party zu Ehren dieser Veranstaltung teil und hatte das große Vergnügen, nachts durch die Straßen der Upper West Side zu spazieren, bei heftigen Windböen und Celsius-Temperaturen im einstelligen Minusbereich. Am darauffolgenden Nachmittag machte ich einen kleinen Bummel von der West 79th Street zu meinem Agenten in der East 57th Street und durchquerte den Central Park, um zu genießen, wie plötzlich der Herbst in den Winter übergegangen war. Und ja, ja, ja, ich wünschte wirklich, ich wäre oben in Buffalo, um mich an den zwei Metern Schnee, die dort fielen, zu erfreuen, aber es sollte nicht sein. Nicht auf dieser Reise.
     Ich fand jedoch die Zeit, hinüber zum Natural History Museum zu spazieren und in Erinnerungen an die vielen Schulausflüge zu schwelgen, die wir dorthin unternahmen, als ich auf der Toddville-Grundschule war, die an der Route 202 lag, knapp außerhalb der Kleinstadt am Hudson, die in meinen Büchern Peterskill getauft habe. Im Museum besuchte ich die Show im Hayden Planetarium, einem wahrhaft magischen Ort. Hier lag der Schwerpunkt auf der Entstehung des Universums und der dunklen Materie, die alles zusammenhält, und wenn ich beim Eintritt etwas unsicher über meinen (unseren) Platz im Universum war, so fühlte ich mich beim Herauskommen so völlig unbedeutend, als wäre ich unter dem Stiefelabsatz der Ewigkeit zertreten worden. Mein Vorschlag an die Leitung? Haltet draußen ein Team von Priestern, Pastoren, Rabbis. Mullahs und Psychiatern bereit, die uns einen kleinen Einblick in das geben, was der Sinn von allem ist, und warum wir uns überhaupt die Mühe machen sollten weiterzuleben. Sagt mir doch noch mal: Was tun wir eigentlich hier?
     Gut jetzt, genug der Ontologie, nicht zu reden von Klage und Mutlosigkeit. Was den Sinn – und andere Freuden – angeht, in der Woche vor New York war ich für die Feinarbeit an den Recherchen für Die Terranauten in Tucson und Umgebung, ich nähere mich gerade der hundertsten Seite, und werde vermutlich irgendwo zwischen drei- und vierhundert landen. Dort, da draußen in der Wüste, begegnete ich zum ersten Mal einer Lebensform, die, wie ich mir vorstellen kann, nicht die ganze Zeit über dunkle Materie und die eigene Bedeutungslosigkeit im großen Plan nachgrübelt: dem Javelina (Nabelschwein oder Pekari). Bräunlich, mit langer Schnauze, so groß wie ein mittelgroßer Hund. Mit kleinen schwarzen Hufen, drahtigem Haar, entzündeten Augen. Es waren drei oder vier. Sie stießen Schreie aus, wühlten ein wenig im Dreck herum und verschwanden in einer Staubwolke. Ich konnte das nachvollziehen. Wieso sollte das plötzliche Auftauchen zweier großer fleischfressender Affen (Frau Boyle war bei mir) auch nicht den selbsterhaltenden Fluchtimpuls auslösen? Wenn man ein Geschöpf auf diesem Planeten ist, das zufällig gut schmeckt, musst du verzehrmäßig auf das Schlimmste gefasst sein.
     Eine Woche davor war ich auf meinem Berg in den Sierras, um zu schreiben und mich in den Wäldern zu tummeln. Es gab den ersten Schnee dieses Jahres, eine winzige Staubschicht von zwanzig Zentimetern, über die die Leute aus Buffalo nur gelacht hätten, aber es war besser als nichts. Dem Teich, der in dem Zeitraum zwischen meinem Blog-Eintrag vom 30. Juni und meinem erneuten Besuch zu Anfang dieses Monats komplett verschwunden war, half das trotzdem nicht. Tschüss, ihr Fische, macht’s gut, ihr Frösche. Viel Spaß mit der unfruchtbaren Erde, ihr Libellen und Stechmücken. Es wird interessant zu beobachten, wie es den aquatischen und amphibischen Geschöpfen ergeht, wenn der Teich sich über den Winter wieder füllt – falls er das tut. Ich nehme an, es gab in der Vergangenheit unzählige Zyklen von Nässe und Trockenheit, und die einheimischen Arten haben die Fähigkeit erworben, ihre Bestände zu regenieren, wenn die Bedingungen es zulassen. Trotzdem ist es für mich ein ästhetischer Verlust, wenn der Teich austrocknet; für die Tiere bedeutet es den Tod.
     Die gute Nachricht ist, dass der Berg bleibt, wenigstens solange, bis Wind und Regen ihn zu Staub zermahlen haben. Das wird noch eine ganze Weile dauern, und das ist auch gut so. Bis dahin habe ich Zeit, ein wenig auszuruhen. Meine abgetragenen Reisetaschen, werden bis Mitte Februar im Schrank stehen, wenn die Deutschland-Tournee für Hart auf hart ansteht, nach der dann die ausgedehnte Amerika-Tour erst richtig beginnt. Jetzt aber muss ich überlegen, ob ich zurück auf den Berg gehe, und mir steht ausgiebiges Lesen und Schreiben bevor – das bedeutet, die nächsten mehr als zwei Monate werde ich wohl exakt das Leben leben, das dieses großartige und sich wie verrückt ausdehnende Universum für mich vorgesehen hat.


Im Original erschien der Text am 23. November 2014 auf www.tcboyle.com. Veröffentlichung des Textes auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann.