Von T. Coraghessan Boyle

Deutsch von Ulrich Tepelmann

 

An diesem Tag des rituellen Schlachtens und der Danksagung, dem Tag des großen amerikanischen Erntedankfestes, sitze ich hier, starre aus dem Fenster in die Bäume und atme tief ein und aus. Die Tournee für den zweiten Band der gesammelten Erzählungen liegt hinter mir, es sind in beiden Bänden zusammen gut 1.600 Seiten Kurzgeschichten, und ich habe mein fünfundzwanzigstes Buch fertiggestellt und abgeliefert, einen Roman mit dem Titel Hart auf hart, den ich auf diesen Seiten schon erwähnt habe. Heute – in dieser Woche, diesem Monat – ich muss es gestehen, fühle ich mich ein bisschen erschöpft. Ja, das Schreiben der nächsten Runde von Kurzgeschichten steht an, und ich fange an, das erste leise Flüstern von einer oder zwei Ideen für einen Roman zu spüren, aber das alles scheint mir im Moment eine schwere Last zu sein, dem in This Monkey, My Back beschriebenen Drang zum Trotz. Ich bin betrübt. Ich lege Rechenschaft ab. Ich fühle wie Miriam in Tod in Kitchawank, dass »alles verloren sein wird, alles, was wir tun, alles, was wir lieben, alles, was wir sind.«
     Am vierten dieses Monats habe ich vom plötzlichen Tod eines meiner engsten lebenslangen Freunde erfahren, Russell Timothy Miller (Maslovat), dem Talk Talk gewidmet ist, Mitglied des Raconteurs Club, Liebhaber von Jazz und Literatur und ein Bonvivant, wie es in unseren Zeiten nur wenige gibt, und den ich seit der Grundschule kenne und liebe. Er hatte genau wie ich eine wilde Ader. Wir erlebten viele Abenteuer zusammen, vor allem während unserer unbändigen Teenagerzeit und dann in unseren hart umkämpften Zwanzigern, aber auch noch bis zu seinem Tod (er war hier bei so manchem Erntedankfest-Essen), und ich werde ihn schmerzlich vermissen. Ein Leben lang schüttet man jemandem sein Herz aus, und dann tut man das nicht mehr, und dann kann man es nicht mehr. Das ist hart. Ich führte eine Woche nach seinem Tod ein langes (einseitiges) Gespräch mit ihm, als ich auf dem Weg zur Southwestern University hoch über dem Sonnenuntergang schwebte, und diese Unterhaltung war, für die, die Russell kannten, sehr passend, gleichermaßen angetrieben von Alkohol und Hingabe. Russell. Er verkörperte sechzig Jahre lang den Optimisten gegenüber meinem Pessimismus.
     Das beigefügte Foto, das, wie ich glaube, in den frühen Neunzigerjahren entstand, fängt einen Moment während der Vorbereitungen auf ein Mittsommerfest ein. Ich nenne diesen Moment wegen seiner Folgen gerne »die Rache der Lachse«. Wir waren zu zehnt oder zwölft, blieben die ganze Nacht auf und nahmen verschiedene Substanzen zu uns, um wach zu bleiben, von denen keine unserer Gesundheit besonders förderlich war, die aber für unsere Tatkraft Wunder bewirkten, um uns darauf vorzubereiten, auf eine Fahrt mit einem kommerziellen Lachsfischerboot vor der San Francisco Bay zu gehen. Ein paar von uns hatten das schon vorher gemacht und wir sind jedes Mal auf die Nase gefallen. Ihr kennt die Übung: eisiger Wind, schwere See, noch schwerere Mägen, nicht ein Fisch am Leben im ganzen weiten wildbewegten grauen Meer. Diesmal hatten wir Glück, schlugen sofort zu und erfüllten unsere Quote von zwei Fischen pro Person so schnell, dass unser Boot als erstes zurück im Hafen war. Prima. Großartig. Aber was sollten wir mit den ganzen riesigen, duftenden, silbrigren Fischen anfangen? Einer aus unserer Gruppe, dessen Name hier nicht genannt wird, kam auf die Idee, die Straße hinunter bis zum Schnapsladen zu schlendern, mit der Hand einen zehn Kilo schweren Lachs an den Kiemen festhaltend, und ihn gegen eine Flasche Wodka einzutauschen. Gut, das war in Ordnung. Das hat tatsächlich geholfen. Aber Russell, der früher Gastronom und Gourmet-Koch gewesen war, neben anderem – Autor, Philosoph, Mathe- und Computer-As, Universalgenie und Klugscheißer – beschloss, dass wir Lachs-Ceviche machen und dann einen Haufen Lachssteaks grillen und eine erstklassige PARTY feiern sollten.
     Und das machten wir auch, und hier ist das Foto, das von ihren Anfängen zeugt. Die Musik dröhnte. Alle hatten Spaß. Verschiedene berauschende Substanzen wurden konsumiert. Und irgendwann sehr spät kollabierten wir in unseren Betten. Dann kam der Morgen, ich war als Erster auf, setzte mich an Russells Küchentisch, spähte hinaus in den schwärenden grauen Nebel, während ich zögernde Versuche unternahm, etwas trockenen Toast und stark mit Honig gesüßten Tee bei mir zu behalten. Doch da kam Russell, müde und barfuß, öffnete schwungvoll das Tielkühlfach und holte Eis heraus, um der eingeschnürten, ausgedörrten Kehle etwas Gutes zu tun, ohne sich der eingefrorenen Reste der großen Lachssteaks bewusst zu sein, die sich gefährlich nahe der Tiefkühlfach-Tür befanden. Das Resultat? Ein empfindlicher Schlag auf Russells großen Zeh. Das war also die Rache der Lachse. Aber das war natürlich nur eine Panne, das gleichmütige Universum schlug zurück. An dem Abend gab es wieder Lachs und wir schenkten die glänzenden körperlosen Köpfe der Vietnamesin am Ende der Straße, die eine nahrhafte und heilende Suppe daraus kochte, ein Gebräu (ein Trank), der uns alle wieder zum Leben erweckte. Zu einem glücklichen Leben. Einem Einatmen- und Ausatmen-Leben. Ein Leben in dieser Welt.
     Was kann ich sagen außer: Lebwohl, mein Freund.
     Und an alle, die da draußen zuhören: Seid dankbar, liebt, was Ihr habt und freut Euch des Tages, der Woche und all der Zeit, die Euch noch bleibt. Russell hat das gemacht. Ich war immer der Besorgte, niedergedrückt vom eintönigen Hammer des Darwinschen Gesetzes und eschatologischer Ängste, aber Russells Philosophie war so viel gesünder: Carpe diem, das hat er gesagt. Carpe fucking diem.


Im Original erschien der Text am 28. November 2013 auf www.tcboyle.com. Veröffentlichung des Textes auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann.