Von T. Coraghessan Boyle

Deutsch von Ulrich Tepelmann

 

Als Kind wuchs ich in New York auf, und die Jahreszeit wechselte von den herrlichen schulfreien Tagen des Sommers zu den elenden Herbsttagen im Klassenzimmer, während die Blätter bunt leuchteten. Wir nahmen kaum Notiz davon – die Blätter waren da, sie wechselten ihre Farbe, sie fielen vom Baum, alles war wie jedes Jahr. Jetzt ist es anders. Jetzt lebe ich an der kalifornischen Küste, wo die Mehrzahl der Bäume und Sträucher ihr Laub nicht abwirft und die Farbe der Blätter sich auch nur wenig ändert. Dieses Jahr jedoch war ich genau in den ersten zwei Oktoberwochen in New York und traf sowohl meine Lektoren und meinen Agenten als auch Freunde und Familie und konnte sehen, wie sich die Blätter verfärbten, ein zutiefst nostalgisches Erlebnis. Ich wanderte auf meinen Lieblingswegen im Fahnestock Park, fuhr langsam und mehrfach durch die Straßen meiner Heimatstadt und sprach leise mit mir selbst, während mir die Tränen die Wangen herunterliefen (vgl. Bergman: Wilde Erdbeeren). Meine Mutter, die mit siebenundfünfzig Jahren starb, hat immer darüber geklagt, wie schnell die Jahre vorbeirauschen und wie die Zukunft mit einem breiten Todesgrinsen auf uns zustürmt. Damals wusste ich nicht, wovon sie sprach, denn meine Existenz war unendlich und die Zeit schlich nur so dahin. Jetzt weiß ich es. Daher die Blätter und die langen Träumereien auf den Straßen und in den Wäldern meiner Jugend.
     Doch halt, wartet: Ich hätte fast das Wunder vergessen – eines Abends fiel tatsächlich Feuchtigkeit vom Himmel, und ich war so verwirrt ob dieses Phänomens, dass ich einen Passanten anhalten und ihn fragen musste, was hier los sei. »Das ist Regen, Mann«, sagte er, und ich war völlig baff. Kann das wirklich Regen sein? Hier in Kalifornien haben wir seit dem 30. April keinen Regen gesehen, deswegen ist es verzeihlich, dass ich ihn nicht erkannt habe.
     Wieder zu Hause angekommen habe ich die fünfte der neuen Kurzgeschichten zu Ende geschrieben, seit ich Blue Skies, meinen neunzehnten Roman, fertiggestellt und abgeliefert hatte, der im Mai herauskommen wird, und ich habe die Korrekturfahnen von Princess durchgesehen, diese Geschichte erscheint in der Ausgabe vom 9. November des New Yorker. Und was noch besser ist, ich hatte eine Lesung im Santa Barbara Museum of Art, die mich, wie sich herausstellte, wahnsinnig glücklich gemacht hat, mehr als jede andere der zahllosen Lesungen, die ich in vielen Jahren gegeben habe. Und warum? Nun, die Geschichte hieß The Shape of a Teardrop aus der neuesten Sammlung I Walk Between the Raindrops, in der zwei Ich-Erzähler vorkommen, eine geduldige Mutter und ihr verirrter Sohn, und ich hatte einen besonderen Gast für die Rolle der Mutter. Und da kam sie aus den Tiefen des Auditoriums, in einem altmodischen Hosenanzug, mit grauer Perücke und riesiger Brille, wie sie alte Frauen tragen, die sie auf die Nase geklemmt hatte. Ich stellte sie als meine Mutter vor, was ein erstauntes Raunen seitens des Publikums hervorrief, auch als sie schildkrötig den Mittelgang entlang humpelte und mühsam die Stufen zur Bühne erklomm. Nach der Lesung, als wir uns verbeugten, sagte ich: »Nimm die Perücke ab«, und als sie das machte, fiel herrliches, langes (gar nicht graues) Haar herunter. Als ich dann erzählte, das sie in Wirklichkeit meine Tochter Kerrie sei, Autorin, Filmemacherin, Schauspielerin, da flippte das Publikum aus. Lieber Gott, das hat Spaß gemacht.
     Inzwischen ist mein Lieblingsfeiertag wieder da. Frau B. und ich werden an den Festivitäten im Lower Village teilnehmen, was ich zu Eurem Vergnügen für meinen Twitter-Account aufnehmen und auch auf tcboyle.com posten werde.
     Viel Spaß Euch allen. Bis später.


Im Original erschien der Text am 31. Oktober 2022 auf www.tcboyle.com. Veröffentlichung des Textes auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann.