Ein Interview mit T.C. Boyle. Geführt von Joachim Hiller – für Ox, dem Fanzine für Punk, Hardcore und Rock’n Roll, im Oktober 1998 in Dortmund.

Das Ox auf dem Literaturtrip: Durch Zufall war Uschi im Oktober auf eine Lesung des von uns beiden geschätzten US-Schriftstellers Thomas Coraghessan »T.C.« Boyle aufmerksam geworden, hatte spontan Karten gekauft und kam dann auch noch mit der Idee an, den Verfasser solch brillanter Bücher wie World’s End, Wassermusik oder Grün ist die Hoffnung einfach zu interviewen. Gesagt, getan, und so saßen wir ein paar Telefonate später Mr. Boyle in einer ruhigen Ecke der Hotelbar des Dortmunder Holiday Inn-Hotels gegenüber, immer noch überrascht, wie einfach es war, ein persönliches Gespräch mit einem Mann gewährt zu bekommen, der weltweit hunderttausende Bücher verkauft, in der Presse abgefeiert wird und mit Riven Rock sein neuestes Werk im Gepäck hatte. Boyle erwies sich als äußerst sympathischer und unkomplizierter Gesprächspartner, in dessen Antworten immer wieder genau jener anarchische Humor aufblitzte, der seine Bücher so lesenswert macht.

Ox: Ich muss sagen, du siehst sehr jung aus für einen Sechzigjährigen.

T.C. Boyle: Was?!?

Ox: Ja, in einem deiner rororo-Taschenbücher steht, dass du 1938 geboren wurdest – richtig ist aber wohl 1948.

T.C. Boyle: Oh ja, das habe ich auch gesehen! Ja, das ist doch gut! So kann ich die Leute mit meinem jugendlichen Aussehen überraschen. Oder ich krieche bei meiner nächsten Lesung mit einem Krückstock auf die Bühne. Das bringt mich darauf, dass ich seit Jahren die Idee mit mir herumtrage, mal eine Wodkaflasche mit auf die Bühne zu nehmen, bei der ich das Steuersiegel – in den USA müssen Schnapsflaschen über den Drehverschluss ein Steuersiegel tragen – wieder angeklebt habe, sodass jeder denkt, das sei eine noch ungeöffnete Flasche. Nur ist meine Flasche natürlich mit Wasser gefüllt. Und so würde ich mich in aller Seelenruhe auf die Bühne stellen, die Flasche leeren, kein Wort darüber verlieren und ganz normal lesen.

Ox: Alkohol – ein gutes Stichwort: in fast allen Artikeln über dich bzw. in fast allen Rezensionen deiner Bücher werden als zentraler Teil deiner Biografie immer wieder Alkohol und Drogen genannt.

T.C. Boyle: Wirklich? Oh, das überrascht mich jetzt aber …

Ox: Soso … stellt dich das nun falsch dar oder stimmt es?

T.C. Boyle: Nun, es gibt mein Image korrekt wieder, allerdings mein altes Image. Heute ist mein Image das eines hart arbeitenden Schriftstellers, der versucht vor seinem Tod soviel zu schreiben wie möglich …

Ox: … anstatt seine Zeit damit zu verschwenden, sich selbst zu zerstören.

T.C. Boyle: Richtig. Ich bin in den letzten Jahren immer schneller geworden. Für Riven Rock habe ich vierzehn Monate gebraucht, während ich für Wassermusik und World’s End noch jeweils drei Jahre gebraucht habe. Wenn ich mich also weiterhin so steigere, werde ich mit 70 in der Lage sein, jede Woche ein neues Buch zu schreiben.

Ox: Oh mein Gott! Wäre das wünschenswert?

T.C. Boyle: Nein – weder für mich, noch für dich, noch für sonst irgendwen.

Ox: Ich denke, es gehört auch irgendwie dazu, dass man auf das neue Buch seines Lieblingsschriftstellers warten muss.

T.C. Boyle: Ja, ich denke auch, und andererseits gibt es ja auch noch meine Kurzgeschichten, was mich in den USA von den meisten meiner Kollegen unterscheidet. Wenn ich also vom Schreiben eines Buches erschöpft bin, fange ich nicht gleich das nächste an, sondern mache erstmal mit einer Kurzgeschichte weiter. 1989 zum Beispiel hatte ich gerade Der Samurai von Savannah beendet, ganz allein oben in meinem Haus in den Wäldern. Ich war froh fertig zu sein, zufrieden mit mir, aber auch aufgeregt. Und am Tag, nachdem ich das Manuskript an meinen Verleger geschickt hatte, kam ich mir vor wie als Kind – dieses Gefühl, dass die Tage endlos dauern, weil man nichts zu tun hat: ich stand auf, frühstückte, las ein Buch, ging spazieren, ging in die Bar was trinken, kam nach Hause – und am nächsten Tag war mir schon wieder so langweilig, dass ich mich hinsetzte und eine Kurzgeschichte schrieb. Tja, dieses Hochgefühl nach dem Schreiben eines Buches hält eben nicht lange an.

Ox: Um auf deine Biographie zurückzukommen: Abgesehen davon, dass du als Ex-Kiffer bezeichnet wirst, ist auch ständig die Rede vom Ex-Musiker. Welche Rolle spielt bzw. spielte Musik in deinem Leben?

T.C. Boyle: Zum einen eine ganz grundlegende: Ich habe noch nie etwas geschrieben, ohne dabei Musik zu hören. Du brauchst einfach den Rhythmus für deine Schreibe, denn das, was du schreibst, muss Rhythmus haben. Ich höre klassische Musik und manchmal auch Jazz. Die Musik darf nicht ablenken, sondern soll einen gewissen Grundrhythmus liefern. Zum anderen wollte ich früher Musiker werden. Ich spielte in einer ganzen Reihe von Bands Saxophon oder Schlagzeug, und in der letzten Band, die ich hatte, war ich der Sänger, und ich glaube, darin bin ich auch am besten. Da das Leben für mich in den letzten Jahren aber immer komplizierter geworden ist, finde ich keine Zeit mehr für die Musik. Ich bin nämlich ein Fanatiker, ich mache keine halben Sachen und will das, was ich mache, so perfekt wie möglich machen. Ich musste mich also zwischen der Musik und dem Schreiben entscheiden, schon aus Fairness gegenüber meinen Mitmusikern, die ja ihren ganzen Ehrgeiz in die Band legten. Naja, und so klappte das mit der Band noch ganz gut, so lange mein Leben nicht so kompliziert war wie heute: Ich hatte erst ein oder zwei Bücher geschrieben, musste nicht viel rumreisen, kaum jemand kannte mich oder interessierte sich für meine Bücher. Heute geht neben dem Schreiben der größte Teil meiner Zeit für das Reisen drauf: Dieses Jahr zum Beispiel kam im Februar in den USA Riven Rock raus, also musste ich auf Lesetour gehen, dann fuhr ich im Juni nach Großbritannien, um dort zu lesen, jetzt bin ich hier, und am 1. November erscheint in den USA ein dicker Sammelband mit meinen Kurzgeschichten. Und im Januar ’99 kommt auch schon die Taschenbuchausgabe von Riven Rock, sodass ich wieder unterwegs sein werde … Ach ja, und dann ist da auch noch das neue Buch, das ich irgendwann mal fertigschreiben muss.

Ox: Das klingt alles nicht viel anders als das, was ein Rockmusiker so zu absolvieren hat: der ist auch ständig auf Tour, entweder mit der Band oder um Interviews für die neue Platte zu geben.

T.C. Boyle: Ja, absolut – nur dass ich nicht weiß, wie diese ganzen Musiker das lebend überstehen. Ich meine, die sind die Hälfte des Jahres unterwegs, und das würde mich umbringen. Mein Standpunkt ist, dass wenn man einen normalen, gesunden Mann oder auch eine normale, gesunde Frau einen Monat lang in ein – durchaus schönes – Hotelzimmer steckt, ist er oder sie nach diesen vier Wochen tot. Dieser Lebensstil bringt dich einfach um, kein Scheiß! Diese Tour in Deutschland zum Beispiel läuft für mich total gut, in Berlin etwa hatten wir im Tränenpalast 500 Leute. Aber: je mehr Leute zu den Lesungen kommen, desto länger sitze ich nach der Lesung dran, um Bücher zu signieren. Das läuft nämlich so: Erst lese ich eine Stunde lang, dann beantworte ich zwanzig Minuten lang Fragen, und dann sitze ich anderthalb Stunden da und signiere Bücher. Dann ist es halbzwölf, ich bin in Schweiß gebadet, wir gehen noch irgendwo was essen, um zwei komme ich ins Hotel zurück, doch um acht spätestens muss ich wieder raus, um in die nächste Stadt zu fahren. Und so geht das jeden Tag. Ich meine, mir machen diese Lesereisen natürlich Spaß, aber sie sind eben sehr anstrengend.

Ox: Bleiben wir bei der Musik: In ein paar Artikeln wirst du auch als »Ex-Punk« bezeichnet. Wie ist das zu verstehen – im Sinne von »Punk« als »Halbstarker« oder im Sinne von »Punkrocker«?

T.C. Boyle: Sowohl als auch!

Ox: Genauer bitte – ich meine, das Interview ist für ein Punk-Fanzine, also wollen wir auch was über die Punk-Vergangenheit von T.C. Boyle wissen.

T.C. Boyle: O.k., o.k. … Ich war ein Punk im ursprünglichen Sinne, aber auch was die Musik anbelangt. Ich war auch ein Hippie, mochte Hippiemusik und Hippiemode, aber ich war jung genug, um an Punk Gefallen zu finden, als es damit richtig losging: Ich schnitt mir die Haare, legte mir andere Klamotten zu und fing an The Clash zu hören. Ich machte also damals, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, in Los Angeles beide Äras mit.

Ox: Und, welche Konzerte von damals hast du in guter Erinnerung?

T.C. Boyle: Natürlich die von den Germs! Au Mann, die legendären Germs. Und natürlich noch zig andere. Meine damalige Band hieß The Ventilators, und auch wenn wir Rhythm & Blues spielten, so waren wir doch ziemlich von Punk beeinflusst. Unser Drummer war echt ein Verrückter, der kloppte wie ein Blöder, sodass wir klassische Rhythm & Blues-Songs in dreifacher Geschwindigkeit spielten. Das war echt verrückt.

Ox: Und, habt ihr irgendwas veröffentlicht?

T.C. Boyle: Nein, soweit kamen wir nie, aber ich habe zuhause noch ein Tape, das wir mal beim Proben haben mitlaufen lassen. Ich finde es großartig, aber damit stehe ich wohl ziemlich alleine da.

Ox: Vielleicht solltest du diese Aufnahme doch noch irgendwann veröffentlichen.

T.C. Boyle: Na, ich weiß nicht – aber die Gefahr besteht durchaus! In New York hat mich vor einer Weile nach einer Lesung eine Frau angesprochen, die für das Plattenlabel Reprise arbeitet. Sie steckte mir mit einem verschmitzten Lächeln ihre Visitenkarte zu und sagte nur »Jederzeit…«. Aber keine Chance, darauf kann ich verzichten. (lacht)

Ox: Nach deiner Beschreibung wären The Ventilators heute durchaus zeitgemäß, denn angesichts von glattem MTV-»Alternative«-Rock wollen viele Leute wohl einfach »echte« Musik.

T.C. Boyle: Hm, stimmt schon. Dieses ganze Grunge-Ding ist mittlerweile völlig am Ende, und ich bestreite nicht mal, dass ein paar dieser Leute recht talentiert waren, aber mehr als einen guten Song oder eine gute Platte hatten die meistens nicht, und das reicht halt nicht. Äh, irgendwie bringt mich das jetzt auf das Thema Film: Ich habe damit zwar direkt nichts zu tun, aber in absehbarer Zeit wird es wohl eine Verfilmung von meinem Buch Grün ist die Hoffnung geben. Columbia Pictures hat sich die Filmrechte gesichert, hat einen Regisseur gefunden und auch Drehbuchschreiber. Das sind die Leute, die das Drehbuch zu Große Pointe Blank geschrieben haben, und als Regisseur ist der Typ vorgesehen, der Full Monty gemacht hat. Vielleicht machen sie aus meinem Buch also einen witzigen Film, ich hoffe es, aber ich selbst habe damit nichts zu tun.

Ox: Hast du denn diesbezüglich keine Ambitionen?

T.C. Boyle: Eigentlich nicht, das heißt, demnächst werde ich wahrscheinlich meine eigene TV-Show auf HBO bekommen. Ich muss allerdings so gut wie gar nichts selber machen, denn die Schreiber suchen andere für mich aus, auch die Regisseure, und es soll so aussehen, dass ich eine kurze Ansage mache zu halbstündigen Verfilmungen von einigen meiner Kurzgeschichten: »Guten Abend, meine Damen und Herren, blablabla …« Ich freue mich darauf, denn so könnte ich auf einen Schlag viel, viel mehr Leute erreichen und müsste nicht mehr so viel auf Tour gehen. Bisher ist das aber erst im Planungsstadium, eine Entscheidung fällt im Frühjahr.

Ox: Literaturverfilmungen sind immer eine heikle Sache, denn wer das Buch gelesen hat, hat im Kopf bereits seinen eigenen »Film« gedreht. Warst du also mit Willkommen in Wellville zufrieden?

T.C. Boyle: Ja! Ich kann Alan Parker sehr gut leiden, sowohl als Regisseur wie als Freund. Ich finde, er hat aus meinem Buch einen tollen Film gemacht – auch wenn die meisten Kritiker nicht dieser Meinung waren. (lacht) Die beklagten, dass er das Buch nur oberflächlich umgesetzt habe, mit zu vielen Slapstick-Szenen. Aber ich denke, man muss einfach sehen, dass es sich um ein ganz anderes Medium handelt: Ich hatte 500 Seiten Platz um zu machen, was ich wollte. Alan dagegen hatte nur knapp zwei Stunden, wobei ich auch noch den Verdacht hege, dass die Columbia-Bosse ihn zwangen den Film zu kürzen, weil er ja richtig groß in die Kinos kam. Aber trotzdem, den Umständen entsprechend hat Alan doch was aus dem Stoff gemacht, der Humor ist wild und dem Buch enstprechend, wobei man auch sehen muss, dass der Humor nicht gerade amerikanisch ist. Die Amerikaner sind da doch Konservativeres gewohnt, diesen typische TV-Serien-Humor halt. Alans Film dagegen hatte mehr was von einem Fellini-Film, er war wundervoll grotesk, mit Schleim und Scheiße und Furzwitzen – Mann, ich finde das klasse!

Ox: Wie arbeitest du? Hast du jeden Tag deine festen Schreibzeiten?

T.C. Boyle: Ja. Ich stehe morgens auf, setze mich hin und schreibe und arbeite meist bis am frühen Nachmittag, eben bis mein Hirn mich im Stich lässt. Und am nächsten Tag mache ich dann weiter.

Ox: Und was ist mit Schreibhemmungen? Passiert es dir mal, dass du dasitzt und dir einfach nichts mehr einfällt?

T.C. Boyle: Natürlich, das kommt vor. Dann stehe ich auf und widme mich dem Toilettenputzen, wische den Küchenfußboden, streiche irgendwas am Haus, bringe ein paar Ratten um – bis ich mich besser fühle und weiterschreiben kann.

Ox: Eigentlich haben alle deine Bücher einen historischen Background. Und ich denke mal, dass man dieses historische Faktenwissen nicht so eben aus dem Ärmel schüttelt, sondern dafür einiges an Forschung leisten muss.

T.C. Boyle: In der Tat. Und dieses Forschen beschränkt sich nicht nur auf meine historischen Bücher, sondern ist auch bei denen notwendig, die in der Gegenwart spielen. Mein neues Buch etwa, das Ein Freund der Erde heißen wird, beschäftigt sich mit der Geschichte der Umweltbewegung von 1950 bis 2025 – ich werde die Geschichte also in die Zukunft projezieren. Meine Frau hasst das Buch jetzt schon, denn wenn ich mich so konzentriert mit der Umweltthematik auseinandersetze, bin ich immer sehr deprimiert. Jedenfalls bin ich in Vorbereitung des Buches schon eine ganze Weile damit zugange gewesen, mich mit der Umweltbewegung zu beschäftigen, mit Biologie-Fachbüchern und so weiter. Und während dieser Vorbereitungsphase entwickelt sich dann die konkrete Idee für das Buch, ich fange an zu schreiben, und im Augenblick habe ich schon ungefähr 60 Seiten geschafft. Wie es scheint, wird es die Geschichte eines Umweltsaboteurs sein, der in den Achtzigern und Neunzigern aktiv war und sich jetzt, 2025, an damals zurückerinnert. Das Prägendste an dem Buch wird das Wetter im Jahre 2025 sein, denn es ist sehr, sehr schlecht. Ich meine, ich will nicht und werde nicht ein weiteres apokalyptisches Buch schreiben, das macht ja jeder. Nein, das Buch wird eher eine Komödie sein, nur ist das Wetter eben sehr schlecht, aufgrund der Erderwärmung: ständig weht ein fieser Wind, alles ist voller Scheiße, alles tropft und ist feucht – so stelle ich mir die Zukunft vor, und um das beschreiben zu können, muss man natürlich erstmal recherchieren. Mit meinen historischen Büchern lief das genauso: Erst war das Thema da, dann habe ich viel dazu gelesen. Bei América habe ich mich in Tijuana mit Mexikanern unterhalten, die versucht haben die Grenze zu überqueren, war mit ihnen nachts an der Grenze, aber das war auch schon alles an journalistischer Arbeit. Ich bin eben kein Journalist, ich erfinde lieber Sachen. Und so lese ich solange Bücher, bis in meinem Kopf eine Geschichte entsteht, die ich dann weiterspinne. Andere Schriftsteller begehen den Fehler, zuviel zu recherchieren, und so lesen und lesen sie und kommen gar nicht dazu, ihr Buch zu schreiben. Ich dagegen lese nur soviel wie es braucht, damit meine Gedanken zu sprudeln beginnen – schließlich kann ich ja »unterwegs« immer noch anhalten und nochmal was nachlesen. Für kleine Details habe ich mittlerweile das Internet als große Hilfe entdeckt. Ich gebe dir mal ein Beispiel: ich habe gerade eine Kurzgeschichte über den langweiligsten Menschen der Welt geschrieben, und der redet über die verschiedensten Dinge, etwa über Golf – oder über Motorsägen. Ich persönlich habe aber keinerlei Ahnung von Motorsägen, doch mit Hilfe des Internets und einer Suchmaschine hatte ich mit dem Stichwort »chainsaw« innerhalb einer Minute eine Masse von Informationen, mit beinahe jedem technischen Detail. Für solche kleinen Recherchen ist das Internet also ein sehr nützliches Werkzeug. Apropos, in Kürze habe ich unter www.tcboyle.com meine eigene Website. Ursprünglich hatte ich eigentlich nur vor, ein paar ausgewählte Rezensionen meiner Bücher dort unterzubringen, aber nachdem ich per Suchmaschine geschaut hatte, was so im WWW über mich zu finden ist – nämlich nur eine handvoll lausiger Reviews von irgendwelchen Leuten -, entschloss ich mich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und etwa die Besprechungen aus großen Zeitungen wie der New York Times dort hinzustellen.

Ox: Und das machst du alles selbst?

T.C. Boyle: Äh, nun, ich habe dafür natürlich meine Techniker – meine beiden Söhne, die von Geburt an mit ihrem Computer und dem Modem verwachsen sind. Die beiden sind zwölf und fünfzehn.

Ox: Eine Tochter hast du auch noch.

T.C. Boyle: Ja, die ist jetzt neunzehn und gerade auf dem College. Die kann mit dem Computer aber nicht viel anfangen, im Gegensatz zu den beiden Jungs. Die haben das Design der Webpage schon fertig, wir müssen sie nur noch auf den Server laden. Aber wenn ihr Vater im Zug von Saarbrücken nach Dortmund sitzt, können sie natürlich nicht daran weiterarbeiten.

Ox: Ein Grundthema deiner Bücher ist, dass du immer wieder die Geschichte eines Mannes erzählst, der in Situationen gerät, die ihn auf die verschiedenste Weise überfordern, sodass er zu Handlungen gezwungen wird, die seltsam bis bizarr erscheinen.

T.C. Boyle: Was du da beschreibst ist doch eigentlich nur das Leben, wie es wirklich ist: Somebody suddenly fucks up in a major way or things come crushing down on him – jemand baut plötzlich große Scheiße oder es bricht einfach über ihn herein. Ich habe das Gefühl, dass mein Leben von zufälligen Ereignissen, von Glück und Pech, von Voodoo bestimmt wird. Und was passiert, was bedeutet es, wenn sich plötzlich alles gegen dich wendet? Da ich einen Roman schreibe, da es sich um Fiktion handelt, habe ich die Macht das Schicksal meiner Charaktere zu bestimmen – und ich will, dass sie leiden. Doch wer bestimmt im richtigen Leben unser Schicksal? Das ist das große Geheimnis, und was geheimnisvoll ist, das macht auch Angst. Bret Easton Ellis, der Autor von American Psycho, hat über América gesagt, in meinen Büchern gebe es immer eine kontrollierte Situation, eine kleine Gruppe von Menschen mit einer Mauer um sie herum, und dann kommt plötzlich jemand, dringt ein und tritt ein großes Chaos los. Und ja, Ellis hat recht. Ich denke, der Wunsch Kontrolle auszuüben, wenn auch nur über einen eng begrenzten Bereich, ist menschlich, aber dann frage ich mich auch wieder, ob das überhaupt jemals möglich ist. Wahrscheinlich nicht, und deshalb gibt es ständig Frustrationen: Alles auf dieser Welt, vom Leben der Bakterien bis zu dem der Wirbeltiere, ist auf Chaos programmiert. Alles ist Chaos, sowas wie »Vernunft« gibt es nicht.

Ox: Wie fühlt man sich denn so als »Kult-Autor«? Als solcher wirst du nämlich immer wieder in Rezensionen bezeichnet.

T.C. Boyle: Hm, ich weiss nicht, ob das wirklich ein gutes Gefühl ist, denn sowas beschränkt dein Publikum. Ich war in den USA früher mal ein »Kult-Autor«, aber jetzt verkaufe ich natürlich viel zu viele Bücher. Zum Mainstream zu gehören ist andererseits auch nicht erstrebenswert, denn das bedeutet ja, dass man nichts Aufregendes mehr macht. Ich bin also irgendwas zwischendrin, wobei man die passende Bezeichnung noch finden muss. Aber klar, es ist schön ein »Kult-Autor« zu sein, ich habe bis heute eine große »Kult«-Anhängerschaft in allen Ländern, nicht nur in den USA. Doch angesichts der Menge von Büchern, die ich mittlerweile verkauft habe, bin ich aus diesem Kult-Dingens herausgewachsen, ohne jedoch zum Mainstream zu gehören. Ich muss mir also was neues ausdenken – wie wär’s mit T.C. Boyle, former cult author, now dominant king of the literary world?

Ox: Äh ja, doch, das klingt gut. Jetzt weiß ich endlich auch, was es mit dieser dezenten goldenen Krone auf deinem Kopf auf sich hat.

T.C. Boyle: … der große Schriftsteller, dem mit jedem Buch was neues einfällt. Als ich 20 war, liebte ich einen bestimmten US-amerikanischen Schriftsteller, der in Europa lebt und dessen Namen ich jetzt nicht nennen werde, weil ich über ihn lästern werde. Dieser Schriftsteller war klasse, witzig, gut, ich kaufte alle seine Bücher, sobald sie herauskamen. Doch dann, beim fünften oder sechsten Buch, fiel mir auf, dass jedes Buch eine exakte Kopie des vorhergehenden war, nur dass die Charaktere andere Namen hatten. Ich habe die Bücher daraufhin weggeschmissen, denn das hat für mich nichts mit Kunst zu tun: Man muss sich weiterentwickeln, muss wachsen, was anderes ausprobieren. Und selbst wenn man daran scheitert – man muss es zumindest versuchen.

Ox: Wie siehst du die Zukunft des geschriebenen respektive gedruckten Wortes in Zeiten, da das Fernsehen und das Internet allgegenwärtig sind?

T.C. Boyle: Als seinerzeit das Telefon eingeführt wurde, schrieb die amerikanische Presse wütende Kommentare darüber, dass nun das geschriebene Wort an Bedeutung einbüßen würde und niemand mehr Briefe schreiben werde. Nun, diese Kommentatoren hatten zu einem guten Teil recht, aber was ist heute? Die Leute schreiben sich Unmengen von eMails und telefonieren weniger. Ich sehe darin nichts Schlechtes, denn immerhin benutzen die Leute so die Schriftsprache – mit Hilfe einer Tastatur. Überlege mal, wie viele Leute schrieben vor zehn Jahren mit Hilfe einer Tastatur? Als Schreiber, als Verfasser von Literatur, beschäftigt mich ein ganz anderer Aspekt, nämlich der, um wieviel wichtiger Musik und Filme im Vergleich zu Büchern genommen werden. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: um ein Buch zu lesen, braucht es ein gewisses Maß an Intelligenz. Demgegenüber ist es viel viel simpler eine CD in den CD-Player einzulegen oder den Fernseher einzuschalten bzw. ein Video einzulegen. Die Schuld daran trägt unsere moderne verrückte Kultur: Ständig ist zuviel von allem verfügbar, alles ist hysterisch und schnell, niemand hat Zeit für irgendwas, schon gar nicht um sich hinzusetzen, sich zu sammeln und sein Gehirn in jenen schönen kontemplativen Zustand zu versetzen, den es braucht, um ein Buch zu lesen. Andererseits sind die Schriftsteller an dieser Entwicklung auch nicht unschuldig, denn je komplizierter und experimenteller ihre Bücher in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern wurden, desto mehr entstand der Eindruck, sie würden nur noch für ihresgleichen sowie für den gebildeten Teil der Bevölkerung schreiben. Nun, das ist prinzipiell in Ordnung, aber auch sehr selbstbeschränkend. Große Kunst, denke ich, sollte für jeden geeignet sein und vor allem auch unterhalten. Oft genug verliert man den zentralen Aspekt aus den Augen, dass ein Buch in erster Linie unterhalten sollte. Ein Buch ist Entertainment, wie eine Fernsehserie oder eine Platte. Ob es nun schlecht oder brillant ist, das ist eine andere Frage – es kommt darauf an, dass es unterhält. Und wir brauchen keine Kritiker, die uns ein Buch erklären. Nun, ich hoffe, dass meine Bücher diesen Anspruch erfüllen: Jeder sollte in der Lage sein, meine Bücher zu lesen. Nicht jeder muss alles darin verstehen, aber man sollte von der Story gefesselt werden, sich davon hinwegtragen lassen. Die nächste Stufe ist, dass man die Struktur und die Botschaft eines Buches erkennt, und so weiter, aber das ist nicht so wichtig.

Ox: Wenn es also um den Aspekt der Unterhaltung geht, um Entertainment, warum sollte dann ein Schriftsteller nicht ein ähnliches Level erreichen wie ein Popstar oder ein Filmstar?

T.C. Boyle: Ganz einfach: Das Publikum ist kleiner. Und weil ich finde, dass sich das ändern sollte, bin ich auch so heiß auf diese TV-Sache, die ich vorhin erwähnt habe. Wenn ich die Leute mit den Verfilmungen meiner Geschichten begeistern kann, gehen sie vielleicht auch in den Laden und kaufen meine Bücher. Ganz offen: Das Publikum ist wie eine Viehherde, die lesen alles, nur weil sie es im Fernsehen gesehen haben. Und ich finde es besser, wenn sie dann etwas lesen, das meiner Meinung nach gut ist, als irgendeine Scheiße – und das ist das, was sie jetzt zu lesen vorgesetzt bekommen. Und deshalb will ich in einem lustigen Jackett via Fernsehen vor ihnen stehen und ihnen klarmachen, was gut ist. Natürlich weiß ich, dass in den USA wie speziell in Deutschland die Kritiker damit ein Problem haben werden, denn sie glauben, dass ein Intellektueller bestimmten Kriterien genügen muss, eine bestimmte Rolle erfüllen soll. Und? Ich habe auch einen Universitätsabschluss, und ich kann machen, was ich will. Nur will ich nicht, dass die Leute denken, eine Lesung wäre eine trockene akademische Sache, die am besten in einem Klassenzimmer stattfindet. Nein, eine Lesung muss Spaß machen, muss elektrisieren – so wie ein gutes Buch auch.

Veröffentlichung des Interviews auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von Joachim Hiller. Bannerbild unter Verwendung eines Fotos von Pablo Campos, Santa Barbara 1998. Verwendung des Fotos auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle.