Ein Interview mit T.C. Boyle. Geführt von Matthias Penzel am 9. November 1995 im berühmten Groucho Club in Soho, London.

T.C. Boyle: Ich hatte Glück, meine Bücher haben sich immer gut verkauft. Mit América bin ich inzwischen an dem Punkt angekommen, wo ich von Leuten dafür angegriffen werde, dass ich einfach ich selbst bin. Es ist ein sehr politisches Buch. Das passt vielen nicht. Oft kommt Kritik gar nicht von Leuten, die mich eh nicht mögen, sondern von diesen zweitklassigen Romanciers. Sie fragen sich, warum ich es bin, der Bücher veröffentlicht und nicht sie. Meine Antwort ist klar: Vielleicht solltet ihr ein Buch schreiben! (lacht) Manche Kritiken sind wirklich fies, attackieren mich einfach; insgesamt ist die Reaktion aber entweder »Boyle ist ein Schweinehund, er sollte aus seinem Bau gezerrt und abgeknallt werden«, oder aber, wie kürzlich zu meinem neuen Buch zu lesen war: »Es ist ein sehr mutiges Buch, das erzählt, wie es wirklich abgeht.« Es tritt Leuten auf die Zehen. Speziell in Amerika.

Matthias Penzel: América ist wesentlich straffer konzipiert als deine früheren Romane. Es gibt wenige Flashbacks, das Gros der Story findet in Los Angeles statt. Ergab sich das von selbst? Oder musstest du dich zügeln und kontrollieren …

T.C. Boyle: (lacht)

Matthias Penzel: … um diesmal nicht so sehr abzuschweifen?

T.C. Boyle: Jaja.

Matthias Penzel: War es von dir also von vornherein geplant, dass in diesem Buch nur das Nötigste reinkommt?

T.C. Boyle: Ja und nein. Nach meinem letzten Buch, Willkommen in Wellville, wollte ich einfach wieder etwas anderes machen. Mein Ziel war, eine Art Fabel zu schreiben, etwas mit einer Moral am Ende; die Sprache einfach auf das Nötigste zu beschränken, mich auch mit der Hyperbolie zurückzuhalten und dem Irrsinn, mit dem ich sonst gern spiele -, um etwas zu machen, was ich nie zuvor gemacht habe. Und, ja, es ist straffer – aufgrund seiner Form, es ist eine Fabel -, es hat gerade vier Personen im Vordergrund, deren Meinungen und eine simplere Geschichte; nicht, was die Story bei oberflächlicher Betrachtung betrifft…

Matthias Penzel: … sondern die Geschichten der Charaktere, ihre Hintergründe und Biographien.

T.C. Boyle: … ihre Geschichten und so weiter, ja.

Matthias Penzel: Es war also von vornherein so geplant?

T.C. Boyle: Ja.

Matthias Penzel: Arbeitest du mit einem Konzept, das du vor dem Schreiben eines Romans festlegst und an das du dich dann hältst?

T.C. Boyle: Nein. Selbst bei América hatte ich lediglich eine Ahnung, eine Idee, wie es sich entwickeln könnte. Sicher war ich mir da aber nicht. Ich arbeite nicht mit outline oder ähnlichem. Es entwickelt sich einfach. Das ist eigentlich der Grund, weshalb ich ein Buch wie dieses schreibe: Um herauszufinden, wie meine Gefühle zu den darin vorgebrachten Sachen aussehen. Das läuft nicht polemisch ab nach der Devise: »Wie wär’s mit einem Buch, das besagt, dass Immigration etwas Schlechtes ist oder etwas Gutes.« Es entwickelt sich einfach. Was aber die Form betrifft, hatte ich von vornherein die recht klare Vorstellung, dieses Mal etwas Simpleres zu machen.

Matthias Penzel: Warum?

T.C. Boyle: Um zu sehen, ob ich es bringen kann. Um … tja, der Rahmen ist jedesmal anders. Anfangs weiß ich vielleicht nicht, wohin es sich entwickeln oder was darin ausgesagt werden wird. Aber ich weiß ungefähr, in was für einem Rahmen ich mich bewegen werde, welchen Umfang ich dem Ganzen einräume, wie komplex es wird. So weiß ich beispielsweise auch bei jeder Geschichte, die ich schreibe – ob sie fünf, zehn, zwanzig oder 350 Seiten Umfang hat – von Anfang an, noch bevor ich mit dem Schreiben beginne, was nötig ist, um die Idee auszuarbeiten. Und die Idee für América war in diesem Sinne eine simplere.

Matthias Penzel: Die Sachen, um die es geht, sind allerdings äußerst komplex!

T.C. Boyle: Ich meine nicht das set-up, sondern was Form anbelangt, und wie weit ich damit gehen muss. Der Roman, den ich als nächstes schreiben werde, wird wieder in der Vergangenheit stattfinden, zwischen 1905 und 1932. Und er wird aufgrund der Inhalte wesentlich komplexer. Es geht um Psychiatrie und Sex.

Matthias Penzel: Wo?

T.C. Boyle: In Santa Barbara, meiner neuen Heimat.

Matthias Penzel: Das artet also zu einer Serie an Westcoast-Romanen aus?

T.C. Boyle: Scheinbar. Tut mir leid, aber ich bin jetzt ein Westcoast Guy; was ich nie für möglich hielt, aber ich kann mir inzwischen nicht mehr vorstellen, je nach New York zurückzugehen. Ich hätte nie gedacht, dass mir das passieren würde. Als ich aber vor zwei Jahren nach Santa Barbara gezogen bin, wurde mir klar, dass das der Ort ist, wo ich sein möchte. Jim Morrison hatte recht: The West is the best!

Matthias Penzel: Ursprünglich bist du aber an die Westküste gezogen, um zu unterrichten, richtig?

T.C. Boyle: Vor achtzehn Jahren bin ich nach Los Angeles gegangen, um dort zu unterrichten. Und das mache ich immer noch. Nicht im Moment, denn ich bin ja gerade auf Buch-Tour. Während der letzten zwei Monate habe ich sechs oder sieben Nächte in meinem Bett geschlafen. Es ist also eine ziemlich große Tour. Und das Schlimme ist, dass ich angefangen habe, Hotelessen gut zu finden. Ich schlafe inzwischen sogar in den Hotelbetten richtig gut. Fast so, als wäre das mein normales Leben. Wahnsinn! In ein paar Tagen fliege ich nach Amsterdam, und dann wird man mich zwei Jahre lang nicht mehr sehen – außer in Deutschland, wo ich im Sommer 1996 vermutlich eine kleine Tour machen werde. Ansonsten werde ich mich die nächsten Monate mit meinem neuen Buch beschäftigen.

Matthias Penzel: Wirst du auch weiter unterrichten?

T.C. Boyle: Ja, weiterhin an der University of Southern California, die mitten in South Central L. A. liegt, mitten im schlimmsten Getto weltweit.

Matthias Penzel: Einem der schlimmsten oder dem schlimmsten?

T.C. Boyle: Ich würde sagen, dem schlimmsten. Es ist inzwischen wegen der vielen Gangs, die immer stärker bewaffnet sind und die – ohne mit der Wimper zu zucken – auch von ihren Waffen Gebrauch machen, sehr gefährlich geworden. In der Gegend kam es ja auch vor ein paar Jahren zu den Unruhen. So lange man aber vor Einbruch der Dunkelheit rauskommt, ist es nicht weiter tragisch. (lacht)

Matthias Penzel: Rassenunruhen sind in Los Angeles ja seit den frühesten Tagen der Stadt fast Tradition: In den Sechzigern brannte Watts …

T.C. Boyle: Ja, so überraschend war es vielleicht nicht unbedingt. Nach den Aufständen der Sechziger hatte sich die Situation aber geändert. Lebensmittelgeschäfte, die damals abbrannten, machten nicht mehr auf. Neue Supermärkte wurden gar nicht erst eröffnet, weil keiner investieren wollte. Dadurch wurde alles schlimmer. Denn, wenn jemand etwas zu essen wollte, dann ging er nicht wie jeder Normalverbraucher in einen Laden und kaufte sich Brot und Rosenkohl, nein, die Mentalität aller Bewohner änderte sich: Wenn sie Hunger hatten, gingen sie lieber zum Kiosk oder zum Deli, um sich dort ein Sandwich zu kaufen – das kostet natürlich achtmal so viel.

Matthias Penzel: Und es sät Wut und Hass …

T.C. Boyle: Ganz genau! Das war nicht nur ein Aufstand der Schwarzen. Er wurde von Schwarzen begonnen, aber das Rodney-King-Urteil war eher eine Ausrede, endlich mal auf die Barrikaden zu gehen. Es hieß, es seien in erster Linie die Gangs gewesen, die das alles gestartet hätten, mit Bränden, die Polizei und Feuerwehr ablenkten, während sie die Lädchen plünderten. Von da an eskalierte es. Mindestens die Hälfte der Plünderer waren Hispano-Amis. Und das Traurigste an den folgenden Statistiken war für mich, zu hören, dass die am meisten gestohlene Ware Pampers Windeln waren. Wir haben so viel, dass wir uns derartiges gar nicht vorstellen können. Diese Leute müssen täglich die Scheiße aus Stoffwindeln kratzen – und was wollen sie? Plastikwindeln! Das ist ja wohl zu viel, so etwas zu wollen und nicht das Geld dafür zu haben … L. A. ist dieses Jahr knapp am Konkurs vorbei gesegelt; die Stadt bekam in letzter Minute eine Finanzspritze von der Regierung. Nächstes Jahr wird das nicht gehen. Im Klartext heißt das: Die Stadt kann ihre Rechnungen nicht bezahlen. Einfach, weil nur einer von fünf Leuten in den Topf ‚reinzahlt, während vier von fünf ‚rausholen. So funktioniert das nicht. Ich weiß nicht, was die Stadtväter dagegen unternehmen wollen. Steuern erhöhen, nehme ich an. Wenn mehr arbeiteten, würde das vielleicht etwas bringen. Ich denke, es wäre effektiv, als allererstes Drogen zu legalisieren – und zu versteuern, so wie Alkohol. Im Untergrund gibt es ein riesiges Finanzvolumen, alles Erträge aus Zuhälterei, Drogenhandel, Hehlerei und anderen Geschäften, bei denen keiner Steuern zahlt. Erhebt man Mehrwertsteuer für normale Güter, so kommt niemand daran vorbei, Steuern dafür zu entrichten. Die Mehrwertsteuer – richtiger: Verkaufssteuer – beträgt zur Zeit 7 Prozent. Das ist zu wenig. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Kalifornien die höchsten Einkommenssteuersätze im Land hat. Statt dieser gestaffelten Einkommenssteuer sollten sie eine Mehrwertsteuer von 30 Prozent oder so einführen.

Matthias Penzel: Für jedes Produkt, das du kaufst?

T.C. Boyle: Ja, oder für alles, was du brauchst. Das ist die einzige Möglichkeit, all jene zu besteuern, die mit ihrem Geld durch das Raster der Wirtschaft fallen.

Matthias Penzel: Aber im Moment gibt es doch so eine Steuer.

T.C. Boyle: 7 Prozent. Aber das ist zusätzlich zu den 11 Prozent der staatlichen Einkommenssteuer und, je nach dem, was du verdienst, bis zu 42 Prozent Bundessteuer. Außerdem musst Du bedenken, dass ein furchtbar großer Teil des Geldes zurück nach Mexiko geht. Die Menschen können in Mexiko nicht leben, sie können nicht überleben, also schicken sie Geld zurück zu ihren Familien – eine ganze Menge Geld, das in den Staaten verdient worden ist. Ein weiteres Problem ist: Wenn Mexikaner, Guatemalteken usw. hierher kommen, sind sie ungelernt und ungebildet. Sie wollen ja arbeiten, nur: alles, wozu sie imstande sind, ist manuelle Arbeit. In einer hochtechnologischen Gesellschaft brauchen wir immer weniger Handarbeiter. Wenn du jedoch keine einfache Mathemathik beherrscht, kannst du noch nicht einmal in einer Fabrik arbeiten. Also bekommst du eine irrsinnige Anzahl an Leuten und hast keine Arbeit für sie.

Matthias Penzel: Denkst du dementsprechend, dass sich die westliche Zivilisation Richtung Mittelalter entwickelt – mit zwei Klassen, eine, die imstande ist, mit modernen Technologien wie eMail etc. zu arbeiten, und eine zweite Klasse, die nicht mal weiß, wie man einen Computer einschaltet?

T.C. Boyle: Genau. Man kann das in der Gesellschaft Lateinamerikas sehen. Die meisten lateinamerikanischen Länder sind korrupt, sie haben eine regierende Partei oder Diktatur und eine sehr kleine, extrem wohlhabende Elite, die sich mit Mauern, Leibwächtern und Mini-Armeen abschottet. Und genau das kann man mittlerweile in L. A. beobachten.

Matthias Penzel: … in Bel Air und Beverly Hills.

T.C. Boyle: Ja. Eine Gesellschaft kann nicht funktionieren, wenn es keine gemeinsamen Interessen mehr gibt. Das wird dann zu mittelalterlich.

Matthias Penzel: Die Zukunft sieht also finster aus?

T.C. Boyle: Mach keine Witze – glaubst du wirklich, dass es besser wird?

Matthias Penzel: Spekulationen über die Apokalypse sind so alt wie die Menschheit.

T.C. Boyle: Ja. Aber ich sehe es nach wie vor in einer »doreanischen« Sicht der Dinge. Schau Dir die Tiere an, zum Beispiel den Rehbestand in New York. Die Jagd auf Wölfe wurde dort verboten, und der Rehbestand ist quasi explodiert. Das geht bis zu einem gewissen Punkt, an dem die Natur eingreift, und das geschieht normalerweise durch eine Krankheit. Ein Drittel der Menschen auf der Welt lebt wie wir, wir haben alles was wir wollen. Ein Drittel kommt gerade so durch und ein Drittel hungert zu Tode. Schau dir Westafrika an, wo Menschen, nur um zu überleben, jedes Tier töten müssen, jedes einzelne Ding, das sich bewegt, bis zu Eidechsen und Fröschen, nur um zu Essen. Sie brauchen ein Feuer zum Kochen, also laufen sie viele Kilometer, um das letzte kleine Bündel Reisig zu finden. Sie nehmen dieses letzte Bündel Reisig und verursachen dadurch ein Verwüstung. Sie schaffen ihre eigenen Wüsten. Schau dir die Sahelzone in Westafrika an! Ich glaube in drei Wochen sieht die ganze Welt so aus. Ich mache mir Sorgen darum, ich mache mir Sorgen um alles. Früher ließ mich das kalt. Vielleicht hat es etwas mit dem Älterwerden zu tun. Früher sagte ich: »Scheiß drauf, ist mir doch egal.« Heute ist es mir gar nicht egal – nichts ist mir egal.

Matthias Penzel: Warum also Bücher? Wozu, aus welchem Grund? Einfach, um diese Gedanken loszuwerden oder um den Gang der Geschichte zu … verbessern?

T.C. Boyle: Ich denke, beides: Ich kann damit Leute beeinflussen, und weil das Schreiben für mich so eine Art Obsession ist – ich kann nicht anders, als aufzuschreiben, wie ich die Welt sehe. Ich denke, man hat Einfluss. Ein Buch wie América geht, denke ich, in den USA nicht spurlos an den Leuten vorbei. Sicher, vielen wäre eine simple Lösung die liebste, so eine Art Hollywood/Disney-Lösung aller Probleme: Cándido und Delaney lebten glücklich bis an ihr Lebensende, Delaney stellte Cándido als seinen Gärtner an, América als Hausmädchen, sie bekamen Kinder, die dann aufs College gingen, und alle waren glücklich. Und dann kommt die Musik zum Titelabspann. Ich glaube nicht, dass es so läuft. Ich denke, dass es wesentlich härter und gemeiner abläuft. Deshalb versuche ich es eben, mit meinen Büchern und an der Uni die Leute aufzurütteln, sie zu erziehen. Der erste Schritt ist, ihnen klarzumachen, dass Literatur etwas Gutes sein kann, dass sie hip und cool sein kann, witzig und unterhaltsam. Literatur ist nicht etwas, das nur in Akademien stattfindet, in muffigen Universitäten, wo Professoren das Geschriebene decodieren. Literatur sollte jedem etwas bieten. Und das ist auch ein Grund für diese endlos langen Tourneen, auf die ich mich begebe, um dies den Leuten näherzubringen.

Matthias Penzel: Offensichtlich mag es ja niemand, mit anderen verglichen zu werden. Aber ein paar satirische Elemente von Américaerinnern mich tatsächlich an Weißes Rauschen von Don DeLillo, den du ja schon erwähnt hattest. Ist das eher schmeichelhaft oder ärgerlich?

T.C. Boyle: Don DeLillo ist einer meiner Helden. Ich denke, Weißes Rauschen ist eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe – ja, ich wünschte, ich selbst hätte es geschrieben. Ich hatte das Buch aber nicht im Hinterkopf, während ich América schrieb. Es gibt in den USA allerdings sehr wenige satirische Autoren. In Weißes Rauschen wird DeLillo stellenweise satirisch, ebenso in Mao II. Tom Wolfes erster Roman, Fegefeuer der Eitelkeiten, ist sehr witzig und satirisch. Es gibt aber nicht viele Satiren dieser Art. In England haben sie Martin Amis und ein paar andere, aber auch nicht sonderlich viel, weswegen sich der Vergleich zu Weißes Rauschen vermutlich anbietet. Überhaupt kümmert sich kaum ein amerikanischer Autor dieser Tage um sozial brisante Themen. Sie schreiben darüber, wie es sich als Autor oder als Professor lebt. Es ist alles sehr eingeschränkt, wie mir scheint. Ich schreibe über alles, was mir passt, also auch über sozial brisante Themen, wenn sie mich gerade bewegen und aufregen. Auch in Der Samurai von Savannah behandle ich den Rassismus, obwohl es insgesamt vielmehr darum geht, wo man sich innerhalb der Gesellschaft befindet, wie sich ein Individuum in eine beliebige Gesellschaft einfügen kann. Gehört Hiro Tanaka nach Japan oder in die Staaten? Und Ruth Dershowitz: Ist sie dieser Autoren-Gesellschaft gewachsen, gehört sie dazu? Auch World’s End hatte bis zu einem bestimmten Grad mit Rassismus zu tun. Es ist für mich also nicht absolutes Neuland.

Matthias Penzel: Ich würde sagen, selbst Wassermusik, obwohl es da um subtilere Abarten wie den Imperialismus, die Arroganz der »zivilisierten« Völker gegenüber der Kultur der »Wilden« geht …

T.C. Boyle: Ganz genau. Denn das ist ja kultureller Imperialismus: Man zwingt einer anderen Kultur die eigene auf. Und um das machen zu können, entwertet man deren Errungenschaften. Ja, dem Thema habe ich mich auf unterschiedliche Weise schon mehrmals genähert. Damit ist jetzt aber erst einmal Schluss. Wie gesagt, in meinem nächsten Buch geht es um Psychiatrie und Sex. (lacht)

Matthias Penzel: Hast Du Dir zur Vorbereitung bereits andere Romane über Psychiatrie angesehen? Beispielsweise Einer flog über das Kuckucksnest und Hannah Green?

T.C. Boyle: Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen, ja. Ich habe mir das gerade neulich durchgelesen, zum ersten Mal seit Ewigkeiten, und ich fand es nicht so super. Ich erzähl dir die Story, an der ich gerade arbeite. Ich habe sie in meinem neuen Wohnort Santa Barbara gefunden. In den Anfangszeiten des Jahrhunderts war Santa Barbara ein Platz, an dem sehr reiche Leute aus dem Osten und aus Chicago riesige Paläste und palastartige Herrenhäuser errichteten, du weißt schon, mit 87 Morgen Land und Mauern drumherum. Einer von denen war der Erbe einer der größten Industrie-Unternehmen, die es damals gab. Er war jung, sein Vater war gestorben. Er hatte zig Millionen Dollar und als er Dreißig wurde, heiratete er eine 29-jährige Frau. Er war in Princeton zur Universität gegangen, hatte 1896 graduiert und war gutaussehend. Er war 1,82 m groß, was damals wirklich groß war. Seine Frau war bildhübsch. Ich habe Fotos von ihr gesehen. Sie war ebenfalls Millionärin und äußerst kultiviert. Ihre Eltern hatten ein Chateau in Genf, sie sprach Französisch und Deutsch, aber: Kurz nach Ihrer Heirat hatte der Mann einen ernsthaften, schizophrenen Nervenzusammenbruch, zum Teil genetisch bedingt, teils psychologisch, resultierend aus ernsten sexuellen Problemen. Ergo, die Ehe wurde nie vollzogen. Und für die nächsten 20 Jahre hat er nie wieder eine Frau angeschaut. Denn wäre ihm eine Frau zu nahe gekommen, hätte er sie körperlich angegriffen. Also konnten auch seine Frau, seine Mutter und seine Schwester ihn nur mit Hilfe von Ferngläsern auf seinem Anwesen beobachten. Ich glaube, es ist eine anrührende Liebesgeschichte, die ich da demnächst schreiben werde.

Matthias Penzel: Sieht so aus.

T.C. Boyle: Seine Frau hielt zu ihm, obwohl sie ihn nicht besuchen durfte und auch nicht am Telefon mit ihm sprechen oder ihm Briefe schreiben konnte. Sie engagierte schließlich einen Psychotherapeuten, einen Freudianer, und die Situation verbesserte sich durch die Analysen so weit, dass er seine Frau wieder sehen konnte. Er war immer noch schwer gestört, aber konnte seiner Frau wieder begegnen. Es gibt übrigens auch einen Affen in dieser Story, und du weißt vielleicht, wie sehr ich Affen liebe. Der erste Primatenzoo der Welt war auf dem Anwesen des gestörten Typen, weil der Psychiater die Ehefrau davon überzeugte, wenn sie einen solchen Zoo gründen würde, könne er – der Psychiater – das Sexleben der Affenleben studieren und die Ergebnisse auf ihren Mann anwenden -, was natürlich nicht funktioniert. Ich habe damit eine Menge Spaß gehabt.

Matthias Penzel: Auch Wassermusik und Willkommen in Wellville bauen auf authentischen Ereignissen auf. Ist dir das lieber, weil es dich davor bewahrt, allzu sehr abzuschweifen …, was ja vielleicht eine deiner Schwächen ist?

T.C. Boyle: Alle Autoren haben unterschiedliche Gaben. Ich glaube, eine meiner Gaben ist Struktur. Ich verstehe es, verschiedene Fäden zusammenzubringen. Wassermusik und Grün ist die Hoffnung sind meine ersten beiden Romane. Ich wusste damals nicht, ob ich imstande wäre, einen Roman zu schreiben. Beide Romane bauen auf tatsächlichen Ereignissen auf, was ihnen Struktur und Form gab. Meinen folgenden Romanen lag dergleichen nicht zugrunde. Und es funktionierte auch. Diesmal werde ich wieder etwas schreiben, das auf tatsächlichen Ereignissen aufbaut. Bis zu einem gewissen Grad trifft dies natürlich auch auf Willkommen in Wellville zu. Denn mit Kellogg hat dieser Roman eine Figur, die tatsächlich lebte. Die komplette Story des Buches habe ich mir jedoch ausgedacht. Das war also ein bißchen anders. Dem nächsten Buch liegen Tatsachen zugrunde, an die ich mich halten werde. Ich muss mir also überlegen, wie ich es strukturiere, was ich aussagen möchte, und wie ich es aussage. Damit beschäftige ich mich zur Zeit.

Matthias Penzel: Hast du dir bereits Notizen dazu gemacht?

T.C. Boyle: Nein, nichts. Ich habe Material gesammelt, Unterlagen der Familie, um die es geht, durchgesehen. Wenn ich aber, so wie jetzt, fünf Monate lang auf Tournee bin, kann ich nicht richtig daran arbeiten. Damit fange ich erst an, wenn ich zurück bin.

Matthias Penzel: Von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags?

T.C. Boyle: Wie du weißt, lässt sich der Alltag eines Schreibers nicht so einteilen.

Matthias Penzel: Manche arbeiten aber nach einem entsprechend rigiden Terminplan.

T.C. Boyle: Ja. Sie schreiben aber nur Abfall. Das geht nicht. Dein Hirn stirbt dabei ab. Sicher, jeder geht da anders heran, aber ich arbeite selten mehr als vier Stunden pro Tag – bis ich mich dem Ende nähere. Man kann sich einfach nicht so lange konzentrieren. Wenn es einen ermüdet, muss man aufhören und sich amüsieren. Trotzdem arbeitet man, denke ich, auf einem unbewussten Level auch dann weiter.

Matthias Penzel: Ja, nonstop.

T.C. Boyle: Genau. Ich flüstere die Namen meiner Charaktere manchmal vor dem Einschlafen. (lacht) Von acht bis fünf würde ich aber niemals arbeiten. Ich glaube, du spinnst. John Gardner, den ich vor langem, ein paar Jahre vor seinem Tod, traf, erzählte mir, dass er jeden Tag arbeitet, und zwar von acht Uhr morgens bis elf nachts. Ich sagte: »Wie furchtbar.« Denn, wenn man weiß, dass man bis elf Uhr nachts am Schreibtisch sitzen wird, dann werkelt man die meiste Zeit einfach nur so herum. So ist das. Und am Ende des Tages, wenn man Stunden mit lauter Quatsch verbracht hat, geht es einem mies, weil man eben nichts Richtiges erreicht hat. Wenn ich den Eindruck habe, dass nichts mehr geht, höre ich einfach auf. Ich glaube, dass man nichts Gutes bringt, ist man erst einmal müde.

Matthias Penzel: Womit schreibst du?

T.C. Boyle: Ich komponiere auf einer Tastatur, nicht einem Computer, sondern einer Schreibmaschine. Alle Revisionen mache ich auf dem ersten Manuskript. Mit meiner Schreibmaschine kann ich immer ein, zwei Zeilen löschen, Tippfehler korrigieren, bevor sie auf dem Papier erscheinen. Das ist also gar nicht so anders, als wenn man mit einem Computer arbeitet. Einfach Backspace. Manchmal denke ich, dass ich für die Endfassung auf einen Computer umsteigen sollte, denn zu diesem Zeitpunkt steht alles felsenfest, ist es, abgesehen von wenigen Details, ganz genau das, was in Buchform erscheint. Das letzte Abtippen dauert also einen Monat, den ich mir eigentlich sparen könnte, wenn ich es mit einem Computer innerhalb einiger Tage machen würde. Es ist vermutlich nur eine schlappe Erklärung, aber gerade dieser Monat macht mir Spaß, gibt mir unheimlich viel. Es ist eine Art, ein Projekt abzuschließen und an ein anderes schon mal zu denken. Ich weiß, genauso gut könnte ich das in drei Tagen mit einem Computer zusammensetzen und den Rest des Monats auf den Bahamas verbringen …, ich weiß auch nicht. Ich habe immer so gearbeitet und ich werde daran festhalten. Bei manchem, was das eigentliche Schreiben betrifft, ergeben sich Gewohnheiten, die man einfach annimmt. Gewohnheiten, die man lieber nicht hinterfragt. Das hat etwas Magisches, so eine Art Voodoozauber, mit dem man sich lieber nicht anlegt. John Updike schreibt seine Romane mit der Hand, seine Essays mit seinem Computer; das ist auch seltsam, irgendwie.

Matthias Penzel: Ist Schreiben erlernbar?

T.C. Boyle: Nein. Es ist eine knifflige Frage. Fast jeder im Publikum fragt bei meinen Lesungen danach. Denn sie wollen alle schreiben. Und sie denken sich, wenn sie ganz scharf zuhören, dann lernen sie, wie’s geht. So funktioniert das nicht. Für Kunst braucht man Talent, eine Gabe, die einem genetisch gegeben ist. Das ist nicht fair, es ist nicht gerecht, dass es manche haben, andere nicht, ich weiß – aber so ist das nun mal. Wenn man die Gabe hat, dann kann man von jemandem geleitet werden, um sie besser einzusetzen. Das ist mein Job. Ich kann die Aufmerksamkeit eines Schreibers auf die kleinen Entdeckungen lenken, die er sonst erst in zehn Jahren machen würde; kann ihn aufs richtige Gleis setzen, damit er nicht plötzlich entmutigt die Feder ins Korn schmeisst. Man kann natürlich auch durch das genaue Lesen und Analysieren anderer Schriftsteller viel lernen, wie man schreibt. Mehr geht nicht. Man kann nicht lernen, wie es geht, wenn man die Gabe dafür nicht hat – man kann sich bis zu einem gewissen Grad verbessern, irgendwann geht aber nichts mehr. So ähnlich wie in der Musik: Manche haben Talent, andere nicht. Mancher hört ein Lied, und schon kann er es perfekt singen – das ist die Gabe Nemesis‘ ; und ich glaube, genau dasselbe passiert mit dem Schreiben auch. Die erste Stufe ist, dass du einen Schriftsteller findest, den du richtig leiden kannst und kopierst seinen Stil – das ist schon mal ein Talent. Aber kannst du darüber hinausgehen? Du kannst niemals ein großartiger Künstler werden, wenn du nicht über die Nemesis hinausgehen kannst. Manche können es, manche nicht. Ich kann Autoren helfen, dahin zu kommen und sie auf den richtigen Weg führen. Aber sie brauchen mich nicht, sie könnten es selber schaffen. Ich sage sehr oft – weißt du, anstatt Workshops im Schreiben sollten wir folgendes machen: Nimm alle Schriftsteller und sperre sie alle einzeln in ein Klo. Ich sage, »jedes Mal wenn ihr eine fertige Geschichte unter der Tür hindurchschiebt, pack ich einen Check über $ 100 dazu – und ein Frikadellensandwich – und ganz fix sind sie alle Genies …« (lacht)

Matthias Penzel: Darauf läuft es doch am Ende hinaus: Just do it – richtig?

T.C. Boyle: Eigentlich braucht es nur eine Menge psychologische Standfestigkeit, es zu tun – du musst Selbstvertrauen haben, es zu schaffen.

Matthias Penzel: Aus diesem Grund bin ich etwas verwirrt über deinen Kommentar mit den Genen – das gibt einem nicht wirklich Selbstvertrauen, oder? Wie weißt du, dass du ES hast. Ich glaube nicht so sehr an das Konzept mit dem Talent. Oft ist es doch so, dass gerade diejenigen, die sagen, sie hätten kein Talent, genau die Leute sind, die keine Lust haben, richtig Arbeit zu investieren. Das Herzblut und den Schweiß …

T.C. Boyle: Versteh mich nicht falsch. Wenn du das Talent hast, braucht es eine Menge Blut und Schweiß, um es zu entwickeln. Aber ich glaube nach wie vor, wenn du kein Talent hast, wirst du nie ein großer Schriftsteller. Natürlich bin ich nicht derjenige, der dir zu sagen hat, ob du Talent hast oder nicht. Ich bin selber oft überrascht. Nur ein Beispiel: Vor ein paar Jahren hatte ich einen Studenten, ein unnachgiebiger Punk: groß, knallhart, rasierter Schädel. Er wollte unter allen Umständen schreiben. Er war in meiner Anfänger-Klasse, und er war gut, bis zu einem gewissen Grad, aber er hatte viele Schwierigkeiten. Wenn ich nun die Studenten für die Fortgeschrittenen-Klasse aussuchen muss, nehme ich 60 Manuskripte und suche davon 20 aus, von denen ich denke, dass es die besten sind. Er hatte es nicht geschafft. Er kam in mein Büro und weinte, dieser knallharte Kerl, er weinte. Im nächsten Semester hat er es wieder versucht und dieses Mal war er der Einundzwanzigste. Er hatte sich verbessert, er war besser. Jemand hat dann die Klasse verlassen und ich habe ihn mit hinzugenommen. Am Ende des Semesters war er der Beste in der Klasse und am Ende des nächsten Semesters der Beste, den ich je hatte.

Matthias Penzel: Und? Wie war sein Name?

T.C. Boyle: Kann ich dir leider nicht sagen. Neenee, er ist nicht berühmt. Er arbeitet noch daran. Ich kann dir den Namen nicht verraten, weil es ihn vielleicht beschämt. Ich kann auch nicht sagen: »Hey, vergiss es mein Freund!« Ich weiß es einfach nie, vor allem dann nicht, wenn jemand erst 20 oder 22 Jahre alt ist, wenn er sich noch entfaltet. Ich sage dir aber eins: Du brauchst einfach Talent für bestimmte Dinge, und du musst daran arbeiten und zwar hart. Die schlechte Nachricht ist: Egal, wie hart du arbeitest, wenn du kein Talent hast, wirst du nie ein großer Künstler. Du kannst dich vielleicht damit begnügen in einer Band zu spielen, die richtig gut ist, aber ein Genie zu sein, ich denke, das ist eine Gabe. Nimm Jimi Hendrix. Er konnte es. Nicht, dass er nicht hart gearbeitet und seine Akkorde gespielt hat, … er war ein Genie, das meine ich. Bis zu einem gewissen Grad bringt Arbeit allein dich weiter und fertig. Ich bin mal zum Iowa Schriftsteller-Workshop gegangen, da geht es sehr angespannt zu, weil …

Matthias Penzel: … schwierig ‚reinzukommen, kann ich mir vorstellen.

T.C. Boyle: Sehr schwierig. Aber erst einmal drin, sind da die kleinen Genies jeder Universität zusammen in einer Klasse. Das ist ziemlich brutal. Und unter diesen Leuten sind viele sehr, sehr große Talente. 20 Jahre später sind einige von ihnen ziemlich berühmt geworden, andere sind schlichtweg verschwunden, vielleicht arbeiten sie immer noch an ihrem Talent in einem anderen Bereich, oder sie haben das Interesse verloren, oder sie sind einfach draufgegangen – wer weiß?

Matthias Penzel: Wie fandest du die Filmversion von Willkommen in Wellville?

T.C. Boyle: Ich mag sie. Ich glaube, Alan Parker hat einen guten Job gemacht. Die Kritiken sagen, der Film ist nicht so gut wie das Buch – gut, okay. Ich hatte 500 Seiten, Parker hatte 2 Stunden. Es ist ein total anderes Medium. Ich denke, was immer er gemacht hat, er hat es gut gemacht. Ich habe den Film dreimal gesehen. Einmal in einer privaten Vorführung und zweimal mit einem größeren Publikum. Alle haben die ganze Zeit gelacht. Es war sehr ungewöhnlich, unvorhersehbar und sehr bizarr. Ich denke, Parker hat einen guten Job gemacht. Hast du das Kind gesehen, das den jungen George gespielt hat? Der Junge hätte den Oscar bekommen sollen, nur für sein Gesicht und sein Mienenspiel. Ich hatte rein gar nichts mit dem Film zu tun. Ich war nur einmal zum Abendessen mit Alan Parker zusammen, als er die Rechte gekauft hat, habe ihm viel Glück gewünscht und bin dann einfach zur Vorführung gegangen, als der Film fertig war.

Matthias Penzel: Mal generell, wenn du dich hinsetzt zum Schreiben, weißt du dann schon, ob es eine Kurzgeschichte oder ein Roman wird? Oder kann es passieren, dass Kurzgeschichten ausufern zu Romanen oder – umgekehrt – Romane zu Kurzgeschichten werden?

T.C. Boyle: Ich weiß immer, wie lange es dauern wird, eine bestimmte Idee zu realisieren. Ich habe gerade sieben neue Geschichten geschrieben, die alle América entsprungen sind. Zwei von ihnen waren vor kurzem erst im New Yorker, Du hast sie vielleicht gelesen, und eine wurde bereits für einen Spielfilm gekauft, eine Kurzgeschichte von 20 Seiten. Es sind alles längere Storys, sie sind charakterorientiert, eher lebensnaher und behandeln aktuelle soziale Fragen. Und es sind sehr böse Geschichten. Ich fürchte, ich habe nur América abgewickelt, aber jetzt will ich einmal den Gang wechseln und zurückgehen zu mehr Comichaftem und Absurdem.

Matthias Penzel: Also würdest du nicht, nur zur Abwechslung, verschiedene Arten von Kurzgeschichten schreiben, während du an einem Roman arbeitest?

T.C. Boyle: Nein. Die Kurzgeschichten müssen warten. Und wenn ich sie geschrieben habe, lasse ich es erst einmal bleiben. Wenn ein Roman fertig ist, habe ich danach stets eine sechs- bis achtmonatige Periode, in der ich Kurzgeschichten schreibe. Am Ende kommt dann ein Buch heraus, eine weitere Sammlung an Kurzgeschichten. Und ich hoffe immer, dass die Kurzgeschichten nach dem nächsten Roman sich sehr von denen unterscheiden werden, die ich gerade geschrieben habe.

Matthias Penzel: Kannst du dir vorstellen, dir das Ziel zu setzen, etwas im Stil von John Grisham zu schreiben, so wie du dir mit jedem neuem Buch auch verschiedene Aufgaben setzt?

T.C. Boyle: Ich glaube, du hast mich missverstanden. Ich würde nie planen, ein Buch für eine bestimmte Zielgruppe zu schreiben. Das …

Matthias Penzel: … könnte eine stilistische Herausforderung sein.

T.C. Boyle: Nein. Das müsste mit dem Teufel zugehen. Schau mal, ich schreibe nicht, damit jemand sich gut fühlt, sondern weil ich etwas ausdrücken will, und um ein Kunstwerk zu erschaffen. Wenn es fertig ist, schicke ich es an einen Verleger und wir denken zusammen darüber nach, ob und wie wir damit ‚rausgehen und es den Leuten verkaufen. Ich glaube, du kannst keine Kunst erschaffen, wenn du ein Programm hast oder eine Formel. So funktioniert es einfach nicht. Die Form interessiert mich kein bißchen. Das ist auch der Grund, warum ich keine Kunstgattungen mag. Science Fiction oder alles andere, Thriller, Mysterien, Detektivsachen, Horrorbücher – das ist alles dasselbe. In den Bereichen gibt es sehr wenig Spielraum. Ich glaube, dass es mein Job ist, dir etwas zu geben, was du noch nie gesehen hast, etwas absolut anderes, völlig Originelles – im Gegensatz zu dem absolut formularischen Schrott, geschrieben von Debilen und für Debile. Ich würde es nie in Betracht ziehen, jemals derart Spezifisches zu schreiben, nur weil es vielen gefallen könnte oder es sich gut verkaufen ließe. Ich glaube, das ist ein Gräuel für einen Künstler. So kannst du das einfach nicht anstellen. Du musst das Publikum führen, weil du dich nicht darauf berufen kannst, was sie sind. Du musst ihnen etwas geben, wovon sie noch nie geträumt haben und sie dann dazu bringen, es zu wollen. Du darfst dich nicht nach der Öffentlichkeit richten. Du machst einfach deine Arbeit. Du forderst dich selber heraus, um zu sehen, was du als nächstes machen kannst. Ich habe beim Schreiben angefangen zu realisieren, wie befriedigend es ist, etwas Neues zu kreieren. Du weißt nicht, ob du es schaffst, du weißt nicht, wie alles zusammen kommt, du weißt nicht, was du erzählen wirst …

Matthias Penzel: Nach sechs Romanen und drei Kurzgeschichten-Kollektionen glaube ich schon, dass du weißt, wie eine Geschichte zusammen kommt.

T.C. Boyle: Aber du weißt nicht, ob die Sache funktionieren wird. Du weißt es nie, bis du zum Ende kommst. Es ist dann wirklich befriedigend, weil du etwas aus dem Nichts erschaffen hast. Du hast ein Werk mehr geschaffen und fühlst dich gut – für circa zehn Minuten, dann musst du das nächste schreiben. (lacht)

Matthias Penzel: Du hast nie erfahren, wie es ist, wenn eine Story nach der Hälfte zusammenbricht?

T.C. Boyle: Nein, habe ich nie. Gelegentlich fange ich eine Geschichte an, schreibe eine oder zwei Seiten und schmeiß es dann weg. Als ich angefangen habe zu schreiben, habe ich Geschichten erst am Schluss weggeschmissen.

Matthias Penzel: Weißt du, wohin dich eine Kurzgeschichte bringt, wenn du anfängst?

T.C. Boyle: Ich weiß es nicht. Es entwickelt sich, es muss sich von Anfang an entfalten. Es ist zu abstrakt für mich, im voraus alles auszuhecken und auszudenken. Es muss unbewusst funktionieren, auch bei einer 10-Seiten-Story, vor allem aber bei einem Roman. Wenn du beginnst, setzt du bestimmte Dinge fest, ein paar Charaktere, ein Thema, Symbole, Action, und du weißt noch nicht einmal genau, warum. Da ich sehr langsam arbeite, Satz für Satz, Seite für Seite, Tag für Tag, habe ich genug Zeit um die Fragen zu lösen. Das ist die eigentliche Herausforderung. Es ist eigentlich ein Luxus. Kannst du – und hier kommt das Talent ins Spiel – es strukturieren? Kannst du es zusammensetzen? Ich weiß vorher nicht, wohin eine Geschichte führt oder was passieren wird – bis ich an die Stelle komme, an der es passiert. Wenn ich auf der letzten oder vorletzten Seite bin, fange ich an, einen Blick nach vorne zu wagen und denke: »Ohja, darauf läuft es also hinaus.« Das ist sehr aufregend. Einer meiner Lieblingsschriftsteller, dessen neues Buch ich noch nicht gelesen habe, Kazuo Ishiguro, sagt, dass er genau andersherum arbeitet. Er denkt erst ein paar Jahre nach und wenn er dann anfängt zu schreiben, weiß er alles. Was mich betrifft, ich würde in einer Irrenanstalt landen, wenn ich so arbeiten müsste. Ich wäre im untersten Keller des Camero Mental Hospital, in Ketten gelegt – ich könnte nie so arbeiten. Es ist wie bei den großen Komponisten wie Beethoven, die Musik intellektuell sehen und hören können, als andersherum der Typ, der einen Song schreibt mit Hilfe eines Pianos oder einer Gitarre. Ich bin der Typ, der seinen Song mit Hilfe der Instrumente schreibt. Ich würde nichts zustande bringen, wenn ich nichts hätte, mit dem ich arbeiten könnte. Du kannst keine Formel haben, wenn du Kunst machen willst. Du willst gegen die Formel arbeiten, du willst ein neues Programm entwerfen, eine neue Form. Insgesamt eine neue Idee. Was am Ende herauskommt, ist genau das, wie die letzte Skizze aussehen wird.

Matthias Penzel: Nein!

T.C. Boyle: Doch, vielleicht ändere ich noch ein Wort oder zwei – aber keine Änderungen an der Struktur, keine Satzänderungen. Noch einmal: Es ist so, weil ich Satz für Satz arbeite. Und ich mache nicht weiter bis ich fühle, dass alles hinter mir wirklich gut ist. So arbeite ich und es gibt für mich keinen anderen Weg. Ich würde nicht einmal versuchen anders zu arbeiten. Aber, wie wir auch schon gesagt haben, dieses nächste Projekt wird sehr interessant, weil es das erste Mal seit Wassermusik und Grün ist die Hoffnung ist, dass es eine reale Geschichte dahinter gibt. Ich weiß, wie alt die Leute waren, als sie gestorben sind, in welchem Jahr welche Dinge passiert sind – auch das ist interessant, zu so etwas jetzt mal zurückzukehren.

Matthias Penzel: Ich bin auch schon ganz gespannt.

T.C. Boyle: Ich habe Lesern davon erzählt und sie sind fasziniert von dieser Idee.

Matthias Penzel: Hast du schon ein Gefühl, wie lang das Buch werden wird?

T.C. Boyle: Ich denke, es wird eine ziemlich lange Geschichte. Ich muss eine Menge Dinge über Psychiatrie einbauen, und natürlich weiß ich noch nicht, wie die dritte Figur sein wird oder wie groß die Rolle der Figur wird. Generell werden historische Romane bei mir immer etwas dicker und umfangreicher, weil es mehr Material gibt, das mich fasziniert. Du solltest Willkommen in Wellville lesen – da ist viel großartige, urkomische und wahre Geschichte drin und der Spaß bei diesem Buch liegt für mich darin: Nur ich weiß, was wahr ist und was nicht; und die unmöglichsten Dinge sind wahr – das ist großartig!

Matthias Penzel: (lacht)

T.C. Boyle: Weil er so reich war und weil er zu einer inkompetenten Person erklärt wurde, war er dann so etwas wie ein Mündel des Gerichts. Dieses musste über ein Jahr lang alles aufzeichnen, über seine Aufseher, sein Anwesen, für seine Frau und seine zwei Brüder. Und deswegen gibt es Gerichtsaufzeichnungen von allem, alles was er gemacht hat. Zum Beispiel: 1932 hat er 5,8 mal in der Woche masturbiert. Das ist großartig! Ich habe alle diesen wundervollen Details über diesen Kerl. Er war außerdem sehr bizarr, er hatte einen bizarren Gang, manchmal hat er gestottert, und er konnte nicht sprechen, wenn er sprach, quatschte er dich zu Tode. Er hatte dieses Riesen-Anwesen mit 40 Mitarbeitern und Autos und allem. Das Anwesen war wunderschön, dieses große Herrenhaus, aber über jedem Fenster waren diese kleinen Eisenverzierungen von kleinen Efeublättern – das waren Gitter, um ihn im Haus zu halten. Sein Bett war am Boden festgeschraubt und es gab nichts anderes im Raum. Er war ein Berserker. Es ist unglaublich, wieviel Geld sie in seine Gesundheit investierten. Als er für unmündig erklärt wurde, war er um die dreißig Jahre alt und 10 Millionen Dollar schwer. Also haben wir hier diesen Typen, eingeschränkt und eingesperrt, sein ganzes Leben lang. Als er starb, war er 36 Millionen Dollar schwer. Das sagt doch einiges über den Kapitalismus aus. Sein Vermögen und alles andere wurden von seiner Frau und seinen Brüdern gemanagt – das ganze Familienvermögen. Er ist 1947 gestorben.

Matthias Penzel: Du bist 1949 geboren. Was hast du während Vietnam gemacht?

T.C. Boyle: 1948 bin ich geboren. Ich war während Vietnam auf dem College. Ich war zwar kein guter Student, aber solange sie dich nicht rausgeschmissen haben, war alles okay. Also habe ich es irgendwie geschafft. Ich unterrichtete danach in einer lokalen High School in New York. Und weil sie diese Jobs als »wichtig für die nationale Sicherheit« einstuften, wurde ich nicht zur Armee eingezogen. Ich habe nie vorher unterrichtet und hatte keine Referenzen, aber ich bekam den Job und das ist alles.

Matthias Penzel: In Peeksville?

T.C. Boyle: Peekskill. Jan Peek war der holländische Entdecker. »Kill« heißt Bach oder Fluss. Also heißt es Peekskill. Dann haben sie diese Lotterie eingeführt und ich hatte Glück, ich bekam eine ziemlich hohe Nummer. Ich glaube, ich hatte Nummer 360 oder 365. Dann habe ich Geschichten publiziert und bin zu dem Iowa Schriftsteller-Seminar gegangen. 1975 war der Krieg vorbei. Ich wäre auf keinen Fall nach Vietnam gegangen. Ich habe den einfachsten Weg gesucht, da herauszukommen. Ich wäre auch nach Kanada gegangen, wenn ich gemusst hätte. Oder Mexiko, wenn wir schon dabei sind. Ich habe mich rausgeredet. Gott sei Dank. Weil ich nicht glaube, dass es ein legaler Krieg war und ich nicht erschossen werden wollte. Ich habe gedacht, es ist besser, noch ein bisschen länger zu leben.

Auszüge aus diesem Interview erschienen in der von Josef »Biby« Wintjes gegründeten Literaturzeitschrift Impressum. Veröffentlichung des gesamten Interviews auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von Matthias Penzel. Foto: Pablo Campos, Santa Barbara 1995. Verwendung des Fotos auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle.