Von Norm Sender

 

Die Ideen zu seinen Kurzgeschichten findet T.C. Boyle oft in den Klatschspalten der Tageszeitungen. Das ist kein Geheimnis. Der Schriftsteller hat dies in vielen Interviews verraten und so einen interessanten Einblick in seine Arbeitsweise gegeben. Es gibt also meist immer eine Geschichte hinter der Geschichte. So auch in seiner Erzählung Ende der Nahrungskette (Orig. Top of the Food Chain), die in dem 1993 veröffentlichten Sammelband Fleischeslust (Orig. Without a Hero) zu finden ist. Es ist eine meiner Lieblingsgeschichten von T.C. Boyle. Sie beginnt so:

Also folgendes, wir hatten da unten ein kleines Problem mit Insekten als Krankheitsüberträgern, und glauben Sie mir, dieses schwächere Zeug – Malathion und Pyrethrum und alle anderen sogenannten umweltfreundlichen Produkte -, das alles hat überhaupt nicht geholfen, null Wirkung, total nutzlos – ebensogut hätten wir Channel Nº5 versprühen können, das hätte auch nicht mehr gebracht.

Worum geht’s? Im Dschungel von Borneo gibt es ein Problem mit Moskitos, die die Malaria übertragen. Mit dem Versprühen von DDT (Dichlordiphenyltrichloräthan) versucht man, der Lage Herr zu werden. Zunächst scheint die Aktion von Erfolg gekrönt. Zum ersten Mal seit ungefähr einem Jahr müsse er nicht mehr dauernd Massen von Moskitos auf seinem Nacken totschlagen, berichtet der Erzähler in Boyles Geschichte. Dafür gebe es jetzt aber ein anderes Problem: Die Hütten der Bewohner hätten plötzlich keine Dächer mehr.
     Mit dem Versprühen von DDT hatte man nämlich nicht nur die Moskitos eleminiert, sondern auch eine Wespenart, die sich vorzugsweise von Raupen ernährt. Diese wiederum machten sich – befreit von ihren ärgsten Feinden – über die Palmwedel her, mit denen die Ureinwohner Borneos ihre Dächer bedecken. Zudem vermehrten sich plötzlich auf unerklärliche Weise die Fliegen. Doch was gegen Moskitos hilft, denkt man sich, könnte sicher auch Fliegen und Raupen abwehren. Und so kommt erneut DDT zum Einsatz, verstärkt und auch am Boden.
     Wieder ist der Erfolg nur von kurzer Dauer. Fliegen und Raupen können reduziert werden, ja, aber es bringt die Ernährungsgrundlage der Geckos durcheinander. Sie stopfen sich mit den tot am Boden herumliegenden Fliegen voll, bis sie aussehen wie dicke Würstchen und sich auch so bewegen. So sind sie natürlich eine ziemlich leichte Beute für Katzen. Am Ende rafft es beide hin – sowohl Geckos als auch Katzen, weil sie mit den toten Fliegen bzw. Würstchen-Geckos in hochkonzentrierter Form DDT zu sich nahmen. Das neue Problem: Ratten.
     Um die Rattenplage in den Griff zu bekommen und das Gleichgewicht der Natur wieder herzustellen, verfällt man schließlich der Idee, 14.000 Katzen über das verseuchte Gebiet abzuwerfen.

… das hätten Sie sehen sollen, meine Herren, diese Miniaturfallschirme mit den improvisierten Gurten, gleich vierzehntausend davon: Katzen in allen Farben des Regenbogens, Katzen mit nur einem Ohr, gar keinem Ohr, einem halben Schwanz, mit drei Beinen, und Katzen, die einen Schönheitspreis in Springfield, Massachusetts gewonnen hätten, und alle zusammen trudelten aus dem Himmel herab wie riesige, überdimensionierte Schneeflocken …

Was aus einem Großteil dieser Tiere wurde, verrät T.C. Boyle am Ende seiner Geschichte. Einer anderen Frage ist jetzt die FAZ nachgegangen. Nämlich: Was ist dran an dieser haarsträubenden Erzählung? Hat diese Aktion tatsächlich stattgefunden? Oder ist es nur eine Legende, die uns Menschen von dem Glauben abbringen soll, wir könnten die Natur beherrschen? Antworten darauf gibt der hervorragend recherchierte und wunderschön bebilderte Artikel:


Titelbild auf dieser Seite: Holger Reichard