Von Norm Sender
Am Donnerstag, den 10. Oktober 1996, ist T.C. Boyle zu Gast beim 5. Göttinger Literaturherbst. Kathrin und ich haben uns rechtzeitig Karten gesichert, wissen allerdings nicht wirklich, was uns beim erstmaligen Besuch einer Lesung dieses amerikanischen Schriftstellers erwartet. Wir haben Wassermusik und World’s End gelesen sowie den aktuellen Roman América, der in diesem Herbst das Licht der deutschen Öffentlichkeit erblickte und zu dessen Vorstellung Boyle nach Deutschland gekommen war.
Wir sind spät dran an diesem kühlen, regnerischen Oktoberabend in Göttingen. Die Veranstaltung soll im Alten Rathaus stattfinden. Doch dort ist alles dunkel und vernagelt, wie wir bei unserer Ankunft in der Universitätsstadt mit Schrecken konstatieren. Nur ein Plakat hängt an der Tür. Darauf der Hinweis, dass die Lesung in den Hörsaal der Uni verlegt werden musste. Also hasten wir gleich weiter, immer noch in Vorfreude auf einen Abend mit T.C. Boyle. Er hätte ja auch plötzlich abgesagt haben können, und als Ersatz würde man uns nun Ida Friesicke vor die Nase setzen, die aus ihrem Gedichtzyklus Wilde Blüten liest. Dieses Horrorszenario malen wir uns in Gedanken aus, während wir verzweifelt den Hörsaal der Uni suchen.
Die Umleitung ist miserabel ausgeschildert. Wir verpassen deshalb zwar nicht den Anfang von Boyles Auftritt, müssen uns aber mit zwei Plätzen in einer hinteren, höher gelegenen Reihe begnügen. Es sind nicht wenige, die Boyle an diesem Abend live sehen wollen. 300 oder 400 Besucher vielleicht? Leere Klappsessel können wir jedenfalls nirgendwo entdecken, und das ist schon bemerkenswert. Denn wir schreiben das Jahr 1996. Wer zum Teufel ist T.C. Boyle?
Wir erfahren es: T.C. Boyle kommt gemächlichen Schrittes auf die Bühne, dürre Gestalt, schwarzes Jacket, schwarze Hose, rote Turnschuhe, Totenkopfringe an den Fingern. Er platziert sich gelassen hinter einem kleinen Pult, redet und liest aus seinem Roman América – in einem bemerkenswert lockeren, unverkrampften Ton, als hätte er noch nie etwas anderes getan. Inhaltlich bekommen Kathrin und ich von der Lesung leider nicht viel mit. Das liegt vorrangig an unseren mangelhaften Englischkenntnissen, aber auch an der Akustik des Hörsaals oder einem zu leise eingestellten Mikrofon. Boyle ist ohne deutschen Übersetzer oder Moderator auf die Bühne getreten. Daher erschließen sich uns lediglich einige bedeutende Passagen aus dem Roman América, wohl auch nur, weil wir das Buch gerade erst zu Ende gelesen haben. Dennoch ist uns zu keinem Zeitpunkt der Lesung langweilig. Allein mit seiner Präsenz schafft Boyle es, uns etwa einanderthalb Stunden zu fesseln. Er macht mit seiner coolen Vortragskunst Lust auf mehr, auf weitere Bücher von ihm, auf weitere Lesungen. Vor allem aber schürt er in uns das Verlangen, die eigenen Englischkenntnisse aufzubessern, damit wir ihn bei seinem nächsten Besuch in Deutschland – verdammt nochmal – besser verstehen.
Der syrische Schriftsteller Ali Ahmad Said (Adonis) sagte einmal in einem Interview etwas sehr Interessantes über Lesungen; Worte, die sich gut auf die Eindrücke von unserer ersten Begegnung mit T.C. Boyle übertragen lassen.
Ich weiß, dass viele Leser nicht verstehen, was ich sage, die einzelnen Gedichte intellektuell nicht genau nachvollziehen können, aber dass sie diese körperliche und stimmliche Präsenz und die Atmosphäre der Dichtung sehr wohl empfinden können. Und wenn es mir gelingt, diese Atmosphäre herzustellen, spüre ich das auch und bekomme diese Energie zurück.«
An diesem denkwürdigen Abend im Oktober 1996 erschließt sich mir, was er damit meinte. Als wir am späten Abend über die A7 nach Hause fahren, haben wir noch jede Menge Spaß. Mit T.C. Boyle und überraschenderweise auch mit Ida Friesecke.
Edit: Im Januar 2007 können wir im Message Board von www.tcboyle.de mit Andreas Zwengel aka JohnDoe ein neues Mitglied begrüßen. Zum Einstieg in unsere Community teilt er uns mit, dass er ebenfalls bei der Boyle-Lesung 1996 in Göttingen dabei war. Seine Erinnerungen an diesen Abend:
Zum ersten Mal habe ich T.C. Boyle »Live« beim Göttinger Literaturherbst 1996 erlebt und war begeistert. Als er den Hörsaal betrat (schwarzes Jacket, schwarzes Hemd, schwarze Hose, knallrote Turnschuhe) und zu plaudern begann, wurde der Begriff Nonchalance für mich endlich mit Inhalt gefüllt. Obwohl sich meine Englischkenntnisse etwa auf dem Stand eines Siebtklässlers befanden (und befinden) und mir der Inhalt der Kurzgeschichte ›Ende der Nahrungskette‹ erst im Anschluss erläutert wurde, hatte ich an diesem Abend ungeheuren Spaß. Dort vorne stand ein weltberühmter Autor und sprach mit einem prallgefüllten Hörsaal, als würde er mit engen Freunden im eigenen Wohnzimmer sitzen. Und nicht nur das, er beantwortete auch die Frage, wie man ein gutes Buch schreibt: (Tierfreunde bitte wegklicken!) Man nimmt zwei Kaninchen unter den Schreibtisch, schneidet sie auf, schlüpft mit den Füßen hinein und sobald sie kalt werden, beginnt man zu tippen. Jedenfalls hab ich es so verstanden, aber persönlich noch nie ausprobiert.
Foto: Holger Reichard