Von T. Coraghessan Boyle

Deutsch von Ulrich Tepelmann

 

Ich schreibe die Folge dieses Monats in drei Abschnitten; der erste datiert vom 14. Dezember: Heute sehr früh aufgestanden, hier auf 2.200 Metern Höhe im Sequoia National Forest, ermutigt durch meinen Hund, der jetzt über ein Jahr alt ist. Der Hund muss Kot absetzen. Gut, in Ordnung. Ich schlüpfe behutsam in meine Schichten an Kleidung (Jeans, T-Shirt, Pullover, Lederjacke, Daunenweste, Strickmütze), schnüre meine Stiefel und begebe mich hinaus in die Stille, noch rührt sich niemand, obwohl es Samstag ist und mir aufgefallen ist, dass vor enigen der Hütten SUVs stehen. Lautlose SUVs, mit Raureif bedeckt, die gestern früh noch nicht da waren. Einmal um den See herum, etwas über eine halbe Meile, die Temperatur bei minus 8 Grad Celsius, dann die Treppe wieder hoch und hinein in den unteren Raum des Hauses (oder Hütte, wie man es auch nennen könnte – zur Klarstellung siehe Mein Schmerz ist größer als deiner). Ich zünde den Holzofen an, setze mich ein Weilchen davor und beobachte die Sonne, wie sie anfängt, die Wipfel der höchsten Bäume zu bescheinen, während sie sich langsam über den Berg im Osten erhebt. Dann geht‘s nach oben in die Küche zum Frühstück für mich und den Hund, die Temperatur im Haus bei sieben Grad und langsam – sehr langsam – ansteigend. Ich lese die alte Zeitung noch mal, die ich am Donnerstag mitgebracht habe, kaue auf einem Bagel und einer Handvoll Nüssen herum, kehre dann zum Ofen zurück, um für etwa eine Stunde ein gutes Buch zu lesen, bevor ich wieder die Treppe zu meinem Schlaf- und Arbeitszimmer hochsteige, um den Laptop anzuwerfen und den Klassik-Sender einzuschalten. Zeit zum Arbeiten. Oder nein, Moment mal, Zeit für ein Nickerchen.
     Fünfzehn Minuten später bin ich wieder auf, mache Tee, und jetzt, endlich, als ich es nicht länger aufschieben kann, fange ich an zu arbeiten. An einer neuen Erzählung. Die Geschichte ist zur Hälfte bis zur Ziellinie gekommen, aber sie versucht, ganz viel an Ideen und Erfahrung auf ihren zu wenigen Seiten einzufangen und stellt mich dadurch vor eine Menge kleiner Probleme, die ich nach besten Kräften zu lösen versuche. Ziemlich bald ist es zwei Uhr und die Geschichte ist um eine einzige halbwegs fertige Szene vorangekommen, und ich bin soweit, eine Schüssel Müsli als karges Mittagsmahl zu mir zu nehmen und dann in den Wald hinaus zu gehen. Die Innentemperatur ist auf dreizehn Grad angestiegen, was mir ganz recht ist, denn ich bin drinnen wie draußen gleich angezogen, und die Außentemperatur ist auf sieben Grad hochgeschnellt. Die Stelle, zu der ich gehe, ist anderthalb Meilen entfernt, und ich stelle fest, dass ich der erste Mensch hier draußen bin, seit am letzten Samstag Schnee gefallen ist, und seine Unberührtheit ist wirklich sehr schön, aber das bedeutet, mir in der dünnen Luft einen Weg zu bahnen, und ich spüre die Anstrengung durch die Beine hindurch bis hinauf in meine Brust, noch nicht mal ein Fuß Schnee, aber trotzdem. Der Hündin ist das alles natürlich ganz egal, sie wirbelt wie wild durch den Schnee aus purer Freude und hält inne, um mit den Kojoten im Urin-Code zu kommunizieren, die vermutlich schlafen und deren Ahnen in einer Schneesturmnacht vor einer Dekade mit ihrer betagten Vorgängerin verschwunden sind.
     Als ich dort ankomme, finde ich eine Felswand in der Sonne mit Blick auf eine tiefe, von einem Fluss gegrabene Schlucht, und ich lasse mich nieder, schlage mein Buch auf und lese. Schaue auf die Landschaft, hinunter auf die Seiten, wieder hoch auf die Landschaft, nach unten auf die Seiten. Um vier Uhr mache ich mich auf den Heimweg und um fünf bin ich im Hüttendorf und plaudere mit Leuten, die ich seit dem Sommer nicht mehr gesehen habe. Rotwein. Eine Pause am offenen Feuer. Dann nach Hause zum Topf mit Marinara-Sauce (frisch zubereitet, also keine Angst), zu einem Buch und einem Film auf DVD. Nach dem Film dem Hund zuliebe noch eine Runde um den See, die Nacht ist klar und kalt, die Temperatur im einstelligen Minusbereich. Dann zu Bett mit einem Buch und Musik aus dem Radiosender in Fresno. Und dann? Licht aus.
     Wenn doch jeder Tag so ruhig ablaufen würde. (Aber klar, wenn es so wäre, würde ich mich wahrscheinlich erschießen.) Aber genau deswegen ziehe ich mich in die Berge zurück – um die Welt abzuschalten und in einen neuen, langsameren Rhythmus zu gelangen, dem Gehirn eine Pause zu gönnen und es wieder seiner wahren Bestimmung zuzuführen, der Erfindung von Geschichten. Ich werde die Idylle hier noch ein paar Tage genießen und dann den Berg hinunterfahren und mich mit dem Rest der Familie wieder vertraut machen.

18. Dezember: Aufräumen, packen (wobei ich meinen Laptop und die inzwischen fertige Geschichte mit dem Titel Wiedererleben nicht vergessen darf), die Wasserleitungen entleeren, Frostschutzmittel in die Toiletten geben, zweimal um den See mit dem Hund, dann die Fahrt den Berg hinab. In keiner Weise gefährlich (siehe den Blog-Eintrag vom 24. November 2011, eine radikal andere Perspektive), denn der Wärmeschub hat das Eis von den Straßen geräumt. Etwas über zwei Stunden bis Bakersfield, wo ich mich im ehrwürdigen Bakersfield Sizzler mit Salat und Eistee stärke, dann über den Grapevine-Pass und in etwa zwei weiteren Stunden zurück nach Hause. Frau Boyle? Erwartet mich in einem Gestöber aus Wolle (sie strickt Mützen als Weihnachtsgeschenke). Ihre Belohnung? Ein Ausflug die Straße hinunter bei klarem, kaltem Himmel zum hiesigen Sushi-Laden. Nichts geht über den Geschmack von rohem Fisch nach einem Arbeitspensum in den Bergen.

21. Dezember: Wintersonnenwende. Ich bin wieder auf Meereshöhe, atme die schwere, sauerstoffreiche Luft und schlage mich mit den verschiedenen Schwierigkeiten, Krisen und regelrechten Katastrophen herum, die sich in meiner Abwesenheit ereignet haben. Aber alles ist gut, und ich bin auf dem Weg runter nach Los Angeles, um Milo abzuholen, dessen Flug sich gestern den ganzen Tag verspätet hat, sodass er erst sehr spät ankam. Was ich nicht tue, ist an den oben erwähnten Hund zu denken, der den Kojoten zum Opfer gefallen war. Kutya. Der weiße Puli, vierzehn Jahre alt, den sein Schicksal an einem winterlichen Neujahrstag ereilte, und dessen Name und Andenken als widerspenstiges Haustier von Sara Hovartry Jennings, Protagonistin meines kommenden Romans Hart auf hart, wie ihr sehen werdet, wieder zum Leben erweckt wird. Ich war allein während eines Schneesturms auf den Berg gekommen, mit ihm und dem ein Jahr alten Hündchen Darda (die jetzt leider auch verstorben ist). Ich rutschte von der Straße in eine Schneewehe, konnte aber wieder herauskommen und es mir und den Hunden sicher in der Hütte bequem machen. Danach machten wir einen Spaziergang um den See und genossen die Wucht des Sturms. Ein schneereiches Jahr. Drei Meter hohe Bermen. Die Straße eine Skipiste. Sehr schön. Dann aßen wir und saßen am Feuer, und danach genoss ich ein paar ungesalzene Pistazien in der Schale und teilte Kutya, der sie liebte, einen ordentlichen Anteil zu.
     Es wurde elf Uhr und der Sturm ließ nicht nach, und so machten wir uns fertig für unseren Gute-Nacht-Spaziergang um besagten See. Nun gut. Aber habe ich schon erwähnt, dass Darda läufig war und dass Kutya, der geile alte Gentleman, an diesem Tag schon recht viel Energie auf sie verwendet hatte? Und dass er ein Hund mit eigenem Willen war? Wir zogen los, Darda und ich, in den Schneesturm hinein, doch Kutya blieb zurück auf der Veranda. Das war das letzte, was ich von ihm sah. Was passiert ist, wie ich später rekonstruiert habe, war Folgendes: Er hatte Lust, einfach auf der anderen Seite um den See herumzugehen, um zu uns zu stoßen, ein einfacher Spaziergang von ein paar hundert Metern, aber er rechnete nicht mit den abgemagerten und zerlumpten Kojoten, die das Flussbett auf der anderen Seite hochkamen, Kojoten mit einer besonderen Vorliebe für Hundebauch, gefüllt mit Trockenfutter und Pistazien.
     Als ich im darauf folgenden Sommer zum Berg zurückkehrte, sagte meine Freundin Rose, deren Nachbar Bob das Grundstück hinter meinem gehörte: »Hey, Tom, hast du deinen Hund jemals wiedergefunden?« »Leider nicht, Rose. Ich glaube, die Kojoten haben ihn erwischt.« »Yeah«, sagte sie, »Bob hat einen Schädel da hinten gefunden und ich hab‘ ihn für dich auf dem Bücherregal aufgehoben, aber dann hat mein Hund mit ihm herumgespielt und ich weiß nicht, wo er geblieben ist.«
     Also, kurz gesagt: You better watch out, you better not shout, you better not cry, I’m telling you why … Jemand kommt in die Stadt. Hoffentlich ist dieser Besuch ein fröhlicher. Genießt die Feiertage, Menschen, Kojoten und alle anderen.


Im Original erschien der Text am 21. Dezember 2013 auf www.tcboyle.com. Veröffentlichung des Textes auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann.