Von T. Coraghessan Boyle

Deutsch von Ulrich Tepelmann

 

Letzte Woche habe ich einen Tweet gepostet mit dem Text: »Nicht viel zu berichten – gearbeitet, gepaddelt, spazieren gegangen«, was einen ganz normalen Tag in diesen Zeiten beschreibt. Alles ist ruhig, alles friedlich. Als ich durch den Hafen paddelte, begegnete mir eine Robbe mit ihrem Neugeborenen, die beide direkt neben meinem Kajak auftauchten, mich voller Panik anblickten und blitzartig wieder abtauchten – und ich hatte nicht einmal eine Harpune dabei. Später beobachtete ich sie, wie sie sich auf eine Sandbank in der Hafeneinfahrt hievten, gleich neben einer weiteren Mutter-Kind-Gruppe, ein seltener Anblick heutzutage in Gegenwart so vieler Menschen. Es war ein ungewöhnlich kalter und windiger Tag, deshalb war dankenswerterweise niemand dabei, Würstchen über Holzkohle zu grillen oder Frisbies zum eintönigen Hämmern eines Ghettoblasters zu werfen. Normalerweise hieven sich die Robben und Seelöwen ja immer auf eine Art Floß, das im Hafen verankert ist, aber dann fiel mir ein, dass die Jungen es nicht schaffen, da rauf zu klettern, da die Fläche ein paar Fuß oberhalb der Wasserlinie liegt, und mir fällt keine andere Stelle im Hafen oder an den angrenzenden Stränden ein, an denen sie Ruhe haben – und geschützt sind. Wie auch immer, da waren sie, und es war herrlich sie zu beobachten.
     In meinem letzten Beitrag hier war ich voller Vorfreude, ein bisschen rauszukommen, da ich ja meine zweite COVID-Impfung bekommen hatte. Das war auch möglich, aber bisher doch auf ziemlich eingeschränkte Art und Weise. Es stellte sich heraus, dass ich nicht ins Studio gehen konnte, um The Shape of a Teardrop für den New Yorker aufzunehmen, sondern ich musste Pionierarbeit leisten und es hier an meinem Schreibtisch machen, und das Ergebnis schien meinem Redakteur zu gefallen. Meine Technik-Abteilung (Ehefrau, Tochter, Schwiegersohn) hatte mich mit einem hochwertigen Mikrofon ausgestattet, und der Hund wurde während der Dauer der Aufnahme ins Gästehaus verbannt, und so schritt das Vorhaben voran. Das Ganze war relativ unkompliziert – das Telefon klingelte nicht, die Autos auf der Straße hatten keine Fehlzündungen, und keine Laubbläser traten plötzlich in Aktion – aber es war doch etwas ganz Anderes als im Studio. Ich hoffe, nächstes Jahr alle dreizehn Geschichten aus I Walk Between the Raindrops aufzunehmen, im Studio, und ich hoffe, dass es richtig toll wird. Doch jetzt war der Höhepunkt meines waghalsigen Post-Lockdown-Ausflugs in die Welt da draußen, in meine Lieblingsbar hier im Unteren Dorf zu gehen, in Begleitung meines Sohnes, Dr. Boyle des Jüngeren, der mit dabei war, um etwaige umherfliegenden viralen Partikel abzuwehren, einen Platz draußen zu finden und mir den ersten von einem Bartender gemixten Drink seit über einem Jahr zu genehmigen (das Ereignis ist auf dem beigefügten Foto verewigt).
     Jetzt freue ich mich auf die Zeit, wenn wir alle geimpft sind und uns sicher – und guter Dinge – in der Öffentlichkeit treffen können. Ich habe es satt, alle anderen menschlichen Wesen als Eindringlinge zu betrachten, als Ansteckungsherd, als Ärgernis. Im Herbst bin ich für zwei Live-Auftritte gebucht, und ich hoffe, bis dahin werden wir die Gesellschaft anderer ohne Paranoia genießen können. Ich möchte sehr gern The Shape of a Teardrop vor einem Live-Publikum lesen und vielleicht den Versuch wagen, bei der Lesung von What’s Love Got To Do With It? in die Rolle einer Frau mittleren Alters zu schlüpfen. Die Geschichte wird ja von einer Frau in der ersten Person erzählt. Bleibt dran. Alles ist möglich. Die Bartender trainieren wieder ihre Handgelenke, und ich bin ganz begierig darauf, wieder zu T.C. Boyle zu werden, auch wenn ich eine Perücke aufsetzen, einen Rock anziehen und einen Hauch Lippenstifft auftragen muss.

The Shape of a Teardrop im New Yorker


Im Original erschien der Text am 31. März 2021 auf www.tcboyle.com. Veröffentlichung des Textes auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann.