Von T. Coraghessan Boyle

Deutsch von Ulrich Tepelmann

 

Der Zauber der Kindheit geht uns viel zu schnell verloren, wenn wir begreifen, dass nicht Fantasie und Spaß die Welt beherrschen, sondern die raue Wirklichkeit des Konkurrenzkampfs, der wir nicht entrinnen können, und die unerbittliche Erkenntnis, dass wir sterblich sind. Ich schreibe, um dieser Wirklichkeit zu entfliehen und um zu versuchen, einen Teil des Kitzels, den uns die Fantasie verschafft, wiederzuerlangen. Und ich finde Trost in der Natur und in den Ritualen, die uns begleiten, von Jahreszeit zu Jahreszeit, von Festtag zu Festtag. Halloween ist mein Lieblingsfest unter all den Festen hier in den USA, und zwar genau deswegen, weil es mir den Zauber der Kindheit wiederbringt, als das Dunkel der Nacht und die sorgfältig in Szene gesetzten Spukgestalten uns Schauer über den Rücken laufen ließen. Ein Spuk, der sich beim Morgengrauen in Luft aufgelöst hat. Diesmal jedoch ist alles anders. Die Gefahr ist real, und das Fest ist weniger eine Gelegenheit, sich an den Schauder von damals zu erinnern, als eine furchtbare Mahnung, dass der virale Tod da draußen mit jedem Atemzug gegenwärtig ist. Und schlimmer noch: Drei Tage danach das Schreckgespenst der folgenreichsten Wahl unserer Geschichte. Wir erleben den Albtraum nun seit vier langen Jahren, und die Aussicht auf vier weitere ist viel furchterregender als die ganzen Wiedergänger, Vampire und Ghule aller Zeiten zusammengenommen. Süßes oder Saures, wirklich wahr. Schlicht und einfach gesagt: Wählt blau für die Demokratie und rot für den Pflock in ihr Herz.
     Und doch, und wegen alledem, habe ich vor, dieses Halloween so weit es mir möglich ist zu genießen. Ich bin hier seit März quasi eingesperrt und sehe nur die engste Familie – Frau B., die das Bett neben mir wärmt, und meine Tochter und ihren Mann und ihren Einjährigen, die nebenan wohnen und uns jeden Tag durch das Gartentor besuchen kommen. Wir werden uns verkleiden, Gesichter in Kürbisse schneiden und eingeschränkt und etwas zaghaft feiern. Morgens wird die Sonne scheinen, ja, klar, aber das Schreckgespenst wird drohend über unseren Köpfen hängen.


Im Original erschien der Text am 31. Oktober 2020 auf www.tcboyle.com. Veröffentlichung des Textes auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann. Foto: T.C. Boyle.