Von Norm Sender

 

Warum eine Website über T.C. Boyle? Diese Frage ist durchaus berechtigt. Immerhin gibt es im Internet mit www.tcboyle.com und www.tcboyle.net schon zwei Boyle-Tankstellen, die sowohl inhaltlich als auch in punkto Kompetenz schwer zu übertreffen sind. Überhaupt wird jede halbwegs prominente Person und beinahe jedes Thema auf unzähligen Internetseiten mehr oder weniger anspruchsvoll in der Online-Welt zelebriert. Warum also eine weitere Website über T.C. Boyle?
     Zum einen geht es mir mit dieser Website darum, deutschsprachige Informationen zu Boyle und seinen Werken zu bieten, Informationen, die speziell für seine deutschsprachige Leserschaft von besonderem Interesse sind. Und diese ist nicht gerade klein. T.C. Boyle ist inzwischen in den deutschen Schulen angekommen. Außerdem, so denke ich mir, wird es seine Gründe haben, warum es den Autor zu Lesungen oder Messebesuchen immer wieder nach Deutschland zieht. Boyle hat hierzulande ein großes und dankbares Publikum, und ständig kommen neue Leserinnen und Leser hinzu. Damit wächst natürlich auch das Bedürfnis an Informationen und das Interesse an Gedankenaustausch. Die Folge? Richtig! Eine neue Website.
     Der andere Grund, der mich zu der Erstellung dieser Website treibt, ist – neben meiner Affinität für das Internet – meine persönliche Leidenschaft für die Werke von T.C. Boyle. Ich wage hier einmal zu behaupten, belesen zu sein. Aber ein großer Romanleser war ich bislang nicht. Mit einer Ausnahme. Wenn ein neues Werk von Boyle angekündigt wird, gehöre ich zu den ersten, die beim Hanser Verlag ein Rezensionsexemplar bestellen oder für den Kauf der Neuerscheinung im hiesigen Buchhandel vorbeischauen.
     Angefangen hatte es im Dezember 1991, als mir eine damalige Arbeitskollegin und gute Freundin die Taschenbuchausgabe von Wassermusik zum Geburtstag schenkte. Zunächst lag das Buch ein paar Wochen in der Ecke. Dann fesselte mich jedoch eine Grippe ans Bett. Ich griff mehr aus Langeweile denn aus Vorfreude nach der Lektüre und durchblätterte die ersten Seiten noch recht widerwillig. Danach legte ich das Buch kaum noch aus der Hand. Als ich das Bett wieder verließ, war Wassermusik zu Ende gelesen, die Grippe auskuriert und ich ein Romanleser. Zumindest in Bezug auf die Werke von Boyle. Ich latschte gleich in die Buchhandlung, kaufte World’s End und den Kurzgeschichtenband Greasy Lake. In den folgenden Monaten und Jahren folgten dann Grün ist die Hoffnung, Willkommen in Wellville und Der Samurai von Savannah. América, Fleischeslust, Riven Rock, Ein Freund der Erde und Schluss mit cool erwarb ich sofort, als diese Bücher in Deutschland erschienen. Und als mir schließlich die Idee zu dieser Website kam, komplettierte ich die Sammlung mit den übrigen Kurzgeschichtenbänden Wenn der Fluss voll Whisky wär, Tod durch Ertrinken und Der Fliegenmensch. Nicht zu vergessen: die tollen Hefte Mein Abend mit Jane Austen, Der Polarforscher und Der Hardrock-Himmel sowie die Audio-CD Hinter meiner Schulter geht die Welt unter.
     Zeit für ein erstes Fazit: Was mich an den Geschichten von T.C. Boyle am meisten fasziniert, das sind Figuren wie Ned Rise (Wassermusik), der Mexikaner Candido (América), Hiro Tanaka (Der Samurai von Savannah), Ty Tierwater (Ein Freund der Erde) oder Charlie Ossining (Willkommen in Wellville). Auf den ersten Blick handelt es sich bei ihnen um ausgesprochen unsympathische Typen, Verlierer, Trottel, teilweise kriminell. Doch T.C. Boyle gelingt es ein ums andere Mal, dass ich mich beim Lesen seiner Geschichten mit diesen schrägen Charakteren identifiziere, bis ich schließlich ganz mit ihnen fühle, leide und am Ende … untergehe. Dies mag einerseits daran liegen, dass die Lebenswege und Handlungsweisen von Boyles Protagonisten im Laufe der Romane verständlich und nachvollziehbar werden. Andererseits ist es wohl darauf zurückzuführen, dass in mir ebenfalls so ein fragwürdiger Kerl steckt, so ein Ned Rise oder Charlie Ossining. Vermutlich identifiziert sich auch Boyle am ehesten mit diesen Typen. Das wird meines Erachtens deutlich, wenn man seine Biographie, die Boyle-Portraits und -Interviews studiert, die einem kleine fragmentarische Einblicke in das Innenleben des Schriftstellers gestatten.
     Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, macht es einem Autor bedeutend mehr Spaß eine Geschichte zu schreiben (und sie wird auch authentischer), wenn er dabei mindestens eine Figur kreiert, mit der er sich besonders gut identifizieren kann. Natürlich steckt in jeder Romanfigur etwas aus dem Leben ihres Schöpfers. Doch bei mehreren Personen ist stets eine darunter, die mehr als die anderen etwas aus dem Seelenleben des Autors verrät. In diesem Sinne bin ich mir ziemlich sicher, dass in T.C. Boyle eher ein Ned Rise oder Candido steckt als ein Will Lightbody oder Delaney Mossbacher.
     Gerade in diesen Tagen, in denen ich intensiv Material von und über Boyle sichte und studiere, mache ich immer mehr Entdeckungen, die auf eine Art Seelenverwandtschaft schließen lassen und meine Begeisterung erklären: T.C. Boyle, Ned Rise und ich haben vieles gemeinsam. Vor allem eint uns wohl der Wunsch, entsprechend unseren Möglichkeiten das Beste aus unserem Leben herauszuschlagen. Okay, dann holen wir mal das Beste für uns heraus …
     T.C. Boyle hat dies, so vermute ich, schon längst geschafft. Was mich betrifft, und Ned Rise und Charlie Ossining und wie sie alle heißen, wir arbeiten noch daran. Bis wir es geschafft haben, durchleben wir weiterhin die Romane, den eigenen und natürlich die von T.C. Boyle.


Foto: www.tcboyle.com