Von T. Coraghessan Boyle
Deutsch von Ulrich Tepelmann
Das war ein Monat voller Gegensätze. Die ersten anderthalb Wochen verbrachte ich oben im Sequoia National Monument, wo ich Die Terranauten zweimal sehr genau von Anfang bis Ende durchlas, bevor ich es an meinen Lektor schickte. Wie ich bereits erwähnt habe, sind die Manuskripte, die ich abliefere, fertig und entsprechen mehr oder weniger dem, was Ihr dann im Druck sehen werdet. Aber ich muss genau auf das achten, was im Kino Kontinuität genannt wird, und sicherstellen, dass kleine Charaktereigenschaften und besonders die Zeitachse in sich konsistent sind. Die Haupthandlung des Buches erstreckt sich über einen Zeitraum von zwei Jahren, und jedesmal, wenn die Zeit voranschreitet (»An diesem Freitag«, »Zwei Wochen später machte er…«, »Im November tat sie…«), muss ich sicher sein, dass alles stimmt – d.h., ich muss alle Dinge schön geordnet wie die Enten in einer Schießbude vor mir haben. Aber ich habe gar keine Enten. Ich kenne nicht einmal welche. Und seitdem der Teich hier auf dem Berg bis auf seinen rissigen und Blasen werfenden Grund ausgetrocknet ist, kann ich auch nirgends welche sehen. Auf jeden Fall war es eine schöne Zeit, in der ich den gesamten Stoff noch einmal in mich aufgenommen habe, und was machte es da schon, dass die Hirschjäger vor dem Fenster herumschossen? Mich haben sie nicht erwischt. (Es gab jedoch tragischerweise einen Todesfall in der Woche, in der ich hier ankam, als ein junger Jäger einen anderen mit einem Hirschen verwechselte.)
Der Kontrast hatte damit zu tun, dass ich vom Berg herunterkam (wo trotz El Niño und dem »Blob« (dem »Klecks«), einem Bereich besonders warmen Wassers im Pazifik, die Temperaturen morgens kaum über Null Grad Celsius lagen, so dass ich das Holzfeuer im Kamin am Brennen halten musste, wie auf den Fotos auf Twitter zu sehen ist), um nach Los Angeles für eine Woche als Gastdozent der USC zu fahren. Das bedeutete, dass ich in Kontakt mit unzähligen fremden Leuten kam, wahre Massen von ihnen, und jeder war, zumindest eine Zeitlang, in einer Hülle aus Stahl eingeschlossen, getragen von kreischenden Gummireifen. Im Kontrast dazu war das morgendliche Umrunden des ausgetrockneten Sees im ersten Tageslicht eine Übung in Einsamkeit. Nichts regte sich. Es gab nur mich, den Hund und die Raben. Nicht so an der USC. Frühe Jogger, die ewigen Bauarbeiter, die für die unaufhörliche Erweiterung der Universität sorgten, die Pendler, die bereits Stoßstange an Stoßstange im Stau standen. Wie überaus erfrischend. Jetzt, während ich hier in meiner kleinen Touristenenklave an der Zentralküste sitze und mich darauf vorbereite, für eine Weile auf den Berg zurückzukehren, ist es meine Aufgabe zu lesen und mich zu entspannen und es zu genießen, dass der Herbst langsam Einzug hält mit seinem Versprechen des lang ersehnten Regens. Für mich keine leichte Aufgabe. Ich bin kein geborener Entspanner. Und ich hoffe sehr, nach einer Verschnaufpause mich wieder der Reihe der Erzählungen zu widmen, die mit Wiedererleben anfing und mit Die argentinische Ameise endete, kurz bevor ich mit den Recherchen zu Die Terranauten begann.
Was die letzterwähnte der Geschichten angeht, die McSweeney’s in der nächsten Ausgabe veröffentlichen wird, so erwarte ich bald die Korrekturfahnen und werde Euch informieren, sobald die Zeitschrift erscheint. Inzwischen habe ich Exemplare der diesjährigen Ausgabe von The Best American Science Fiction Stories bekommen, wo auch Wiedererleben enthalten ist. Ob es sich bei dieser Geschichte – die zuerst im The New Yorker veröffentlicht worden war – um Science Fiction handelt, bleibt natürlich eine Frage der Definition und könnte diskutiert werden. Sind Genres wirklich so fest umrissen? Ich erinnere mich noch, wie amüsiert ich war – ich hatte zwölf Bücher mit Belletristik unterschiedlicher Wildheit, Absurdität, Surrealität und klarem Realismus veröffentlicht – als mein Buch zur Jahrtausendwende, Ein Freund der Erde, von vielen als Science Fiction eingestuft wurde. Und warum? Weil es in seiner Auseinandersetzung mit der Erderwärmung einen Blick in die Zukunft (2026) warf. Na gut. In Ordnung. Ich empfinde Freude und Stolz – insbesondere darüber, dass Wiedererleben in der diesjährigen Anthologie gewürdigt wird. Beobachten wir weiterhin, wie diese Grenzen ins Schwanken geraten und zusammenbrechen. Warum? Einfach weil es so mehr Spaß macht. War Borges ein Science-Fiction-Autor? Calvino? Gute Belletristik ist gute Belletristik.
Was gibt’s noch? Gerade gestern habe ich Exemplare der neuen Pharos-Ausgabe von William Kotzwinkles urkomischem Hippie-Klassiker The Fan Man erhalten, für die ich die Einführung geschrieben habe. Wenn wir uns nicht vorstellen können, wo wir sein und was wir tun werden, während wir die Tage unseres Lebens herunterzählen, so muss ich sagen, dass die Auswahl dieses Buches für den Nachdruck und das Verfassen der Einführung für mich eine ganz besondere Möglichkeit bot, eine Verbindung mit meiner Vergangenheit, die verschwommen ist und immer mehr verschwimmt, herzustellen. Wie sehr haben wir seinen wahnwitzigen Humor bewundert, als wir verwahrlost und stoned in einem heruntergekommenen alten Haus in New York lebten, in farbenfrohe Lumpen gekleidet, und jeden Tag zu einem Halloween-Fest machten. Hätte ich mir damals nur diesen jetzigen Moment vorstellen können, wie high hätte ich sein können! Oder, nein, streicht das. Wenn ich damals in noch größere »Höhen« gestiegen wäre, wäre ich Astronaut geworden (und ich hätte dazu auch keine blöden Raumschiffe gebraucht). Belassen wir es also dabei.
Ich wünsche Euch allen ein frohes Halloween (schaut Euch bitte das beigefügte Bild an und vergleicht es mit den Bildern, die ich im gleichen Monat 2012, 2013 und 2014 gepostet habe). Wir machen immer weiter, oder? Danke dafür, Leute, insbesondere Euch treuen Messagistas und anarchischen Twitterern, die mir so viele Nervenkitzel und Schreckmomente und schöne, glückliche, mir die Kehle zuschnürende Lacher beschert haben, ob nun im Zusammenhang mit Halloween oder nicht. Viel Spaß.
Im Original erschien der Text am 31. Oktober 2015 auf www.tcboyle.com. Veröffentlichung des Textes auf www.tcboyle.de mit freundlicher Genehmigung von T.C. Boyle. Verwendung der deutschen Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Tepelmann.
